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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt
Autoren: Andreas Steiner
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beieinander, und doch trennten Welten die einzelnen Gruppen. Die einen lebten nur zwischen ihren Kolben, Flaschen und Substanzen, die anderen vergruben sich ausschließlich in ihren Büchern und Schriften. Sogar die Rezitatoren, die den Tempelbezirk so gut wie nie verließen, dämmerten womöglich in ihren gewohnten Ritualen und Abläufen dahin, obgleich sie doch für das Empfinden und Leben für so viele Menschen zuständig sein sollten.
    Darius’ Blick wanderte verschwommen durch die Reihen. Drei Reihen vor ihm stoppte er plötzlich. Durch die Andächtigen hindurch wurde seine Aufmerksamkeit auf eine Gestalt gelenkt, die ohne erwähnenswerten Auffälligkeiten wie alle anderen am Ritual teilnahm. Irgend-etwas stimmte jedoch nicht. Darius versuchte zu ergründen, warum er den Blick nicht abwenden konnte, aber er fand keinen Grund. Der Mann, den er fixierte, war dick und massig, und trug eine große Allonge-Perücke. Es war, als zöge ein unsichtbarer Faden seinen Blick auf ihn. Darius‘ Augen begannen, zu schmerzen und er musste verstärkt blinzeln. Es war wie ein Kampf gegen einen fremden Willen, den er dabei war, zu verlieren. Sein ganzer Körper begann, sich zu verspannen. Ohne zu wissen warum, verschwand die ganze Umgebung, die Anwesenden, der Tempel. Er sah nur noch den Mann.
    Ein lautes, gurgelndes Geräusch riss Darius jäh aus seinen Fesseln. Der massige Mann hatte sich erhoben und gestikulierte wild mit seinen Armen. Panisch zerrte er an seinem Halstuch, er rang würgend nach Luft, riss sich mehrere Silberknöpfe bei dem Versuch ab, hastig seine Weste zu öffnen. Dann schlug er wieder epileptisch um sich und traf einige andere dabei mit Händen und Ellbogen ins Gesicht, als er aus der Enge der Sitzreihe flüchten wollte. Eine seiner Hände krampfte sich an eine Rücklehne, als wolle er sie herausreißen, als er in Richtung Mittelgang hastete. Dann stürzte er zu Boden. Sein ganzer Körper schüttelte sich nur so von Zuckungen, die Perücke rutschte vom kahlen Schädel. Während er auf den Rücken rollte, traten seine Augen weit aus den Höhlen. Sein Gesicht war dunkel angelaufen, seine dick geschwollene schwarze Zunge quoll aus dem Mund, und zäher Schleim rann ihm aus den Mundwinkeln. „Ha’al granchhran, kûmen dár“, betete teilnahmslos die Menge. Ganz wenige sahen verstohlen auf die sich krümmende fette Gestalt. Auf einigen Gesichtern war der Ausdruck von abgrundtiefem Ekel zu erkennen, andere wirkten nur versteinert und folgten stur dem rituellen Geschehen.
    Dann kamen sie. Ungefähr sechs schwarzgekleidete Gestalten lösten sich lautlos aus der Dunkelheit und schritten zügig auf den röchelnden Mann zu. Ihre Gesichter waren hinter schimmernden, schwarzen Visieren verborgen, sie hatten dazu lange Kapuzen übergezogen, deren lange Zipfel den ganzen Rücken hinunterhingen. In ihren breiten Gürteln steckten mehrere längliche Gegenstände, die im schwachen Licht aussahen wie langschneidige Beile. Der erste aber zog eine mächtige metallbeschlagene Keule und holte weit aus. Er schlug dem Mann mit aller Kraft auf die Brust, ein weiterer hob seine Keule wie einen Spieß und rammte ihn ihm in den Bauch. Es hörte sich nass und matschig an, als würde man eine Schnecke zertreten. Das Gurgeln ging in einen röchelnden Schrei über, bis der dritte seinen Schlag auf den Schädel niedersausen ließ. Das dumpfe Knacken des Schädelknochens setzte jeder Regung ein Ende. Ein paar unwillkürliche Zuckungen der Beine noch, dann war der dicke Mann still. Die anderen drei schlangen dem nun leblosen Körper ein Seil um den Hals und den Oberleib. Dann zogen sie ihn mit vereinter Kraft nach draußen und verschwanden durch eines der Portale. Alles ging schnell und geradezu lautlos. Zurück blieb nur die verschmierte Lache einer schleimigen, schwarzen Substanz, von der ein ekelerregender Geruch ausging. Säuerlich, und zugleich wie nach Schwefel stinkend. Darius wurde übel. Er vermeinte noch, von draußen Schläge der Beile zu hören, wie sie in den Körper eindrangen. Er verbot sich den Gedanken. Ein unerbittlicher Brechreiz schnürte ihm die Kehle zu. Krampfhaft starrte er in die Tempelmitte.
    „Freimut und Freude!“ intonierte ein Rezitator.
    Es mochte der letzte der fünf sein, der das Wort ergriff, denn die Andacht neigte sich schon dem Ende zu. „Ysg’r rág letoch!“. Die Abschiedsformel. Alle standen auf, fassten sich wieder an den Händen.
    Der „Mond“, erstrahlte nun heller, er erfüllte nun fast
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