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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt
Autoren: Andreas Steiner
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den ganzen Tempelraum. Das Licht blendete in den Augen, nur der gegenseitige Halt der Andächtigen aneinander war jetzt spürbar. Ein Moment der Stille. Eigentlich wunderschön, dachte Darius. Die widerwärtige Szene von eben wirkte so unwirklich bei diesem heiligen Beieinander, wie ein Fremdkörper, der nicht passt. Wie ein böser Traum, der sich im Licht verflüchtigt. Darius spürte wieder die zierliche Hand in der seinen, noch immer war sie sehr kalt.
    Ruhiges Atmen war eingekehrt. Das Licht wurde wieder schwächer. Die Menschen ließen sich wieder auf den Sitzen nieder. Darius schaute verstohlen auf den Gang. Die Lache war verschwunden, der Gestank verflogen. „Lasst uns in Frieden auseinandergehen“, fuhr die Stimme fort. „Helód gothséneth!“. „Helónd naggérenth!“ antwortete die Menge.
    Das Licht wurde noch schwächer, die Rezitatoren neigten die Köpfe zueinander in achtungsvoller Verbeugung. Dann verließen sie den Altar, feierlich, erhaben, der Bedeutung ihres Dienstes zu jeder Zeit bewusst. Dann wurde auch das Licht in den Reihen heller. Alle erhoben sich nach und nach, unruhiges Scharren und Getrappel breitete sich in allgemeiner Aufbruchstimmung aus. Auch Darius schob sich durch die Reihe in den Mittelgang, um sich seinem Portal zuzuwenden. Dabei trat er auf etwas Weiches. Es war die Perücke, ganz zerzaust und verdreckt von den vielen Füßen, die auf sie getreten waren.

Es ist an der Zeit
die niederen Geschöpfe
in den Schlund der Hölle
hinabzustoßen.
Eusebius von CHUR

    D er Tag verabschiedete sich mit einem prachtvollen Abendhimmel. Feuerrot türmten sich die Wolken in die Höhe, von goldenen Strahlen umsäumt. Weiter oben färbte sich die Atmosphäre rosa bis zartviolett und verkündete die kommende Nacht.
    Berthold saß versunken an seinem Fenster und sah schmerzerfüllt hinaus. Es ging ihm ausgesprochen schlecht heute, obwohl es heute ein schöner, warmer Julitag in diesem Jahr 1997 war.
    Er hatte von Margit nun schon drei Tage nichts gehört. Sie hatte, wie üblich, weder angerufen, noch sonst eine Nachricht von sich gegeben. Berthold verzehrte sich nach ihr, und sein qualvolles Verlangen mischte sich mit grausamer Angst, sie wolle vielleicht gar nicht mehr zu ihm zurück. Er hatte bisweilen wüste Phantasien, mit wem sie sich wohl gerade träfe, wenn es überhaupt bei einem harmlosen Treffen bliebe. Er wusste genau, wie sehr die Männer auf ihre aufreizenden Blicke und ihren verführerischen Duft reagierten. Erst vor zwei Wochen hatte sie ihm triumphierend einen Liebesbrief vorgelesen, den ein Fremder ihr geschrieben hatte, mit dem sie lediglich zwei Stunden in einem Zugabteil verbracht hatte. „Du bist schön, sehr schön. Du bist so natürlich. Bitte rufe mich an. Du würdest mich überglücklich machen. Meine Adresse ist ...“ und so weiter.
    Was für ein anmaßendes Arschloch. Irgendwie brauchte sie solche Typen, obwohl sie den Brief dann weggeworfen hatte. Zuerst aber hatte sie ihn ihm vorgelesen und triumphierend seine Wirkung abgewartet.
    Berthold sagte Margit immer rundheraus, was er für sie fühlte; er konnte gar nicht anders. Margit dagegen war sehr verschlossen.
    Manchmal fragte er sie.
    „Wenn ich dich nicht mögen würde, würde ich ja keine Zeit mit dir verbringen“, gab sie dann zurück.
    Komplimente kamen von ihr nicht; sie mochte es auch nicht, wenn er ihr welche machte. Er war es, der die meisten gemeinsamen Unternehmungen vorschlug, nur dass sie in der letzten Zeit immer häufiger absagte. Ihre Stimmungen waren zudem völlig unberechenbar. Ihre schlechte Laune war sprichwörtlich, und dann durfte er sie nicht einmal berühren. Wagte er dennoch einen Versuch, drehte sie sich abrupt weg mit einem Ausdruck des Ekels in Gesicht und Stimme. Von Anfang an hatte sie ihm erklärt, dass sie ihre Freiheit brauche, was bedeutete, dass sie ihn mehr als einmal in der Woche gar nicht sehen wollte. Oh Mann, das war die Hölle. Gleichzeitig hatte sie ein grenzenloses Bedürfnis nach Anerkennung. Sie brauchte das Klatschen des Publikums sowohl bei ihren Auftritten wie im normalen Leben. Berthold versuchte dann, verständig zu sein. Die kurze Italientournée mit Mendelssohns „Elias“ war schließlich wichtig für eine ehrgeizige Altistin. Oh ja, die verfluchten geilen Italiener würden ihr zu Füßen liegen. Womöglich lag sie schon mit dem ersten im Bett.
    Berthold lief in seinem Zimmer umher wie ein Tiger im Käfig und versuchte die qualvollen Gedanken abzuschütteln.
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