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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt
Autoren: Andreas Steiner
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Kreuzganges auf und näherte sich bedächtigen Schrittes. Die Schlüssel suchte er in der Innenseite seines Gehrockes unterzubringen, fand aber zunächst die Tasche nicht. Der Anblick verschwamm vor Darius’ Augen, und wie so oft ergriff ihn eine leichte Benommenheit. Wie im Traum sah er Beda näher kommen.
    „Wir können gehen.“
    Bedas Worte drangen unendlich langsam in Darius’ Bewusstsein. Richtig, es war wieder die Zeit der Andacht gekommen. Darius erhob sich, strich seinen Umhang glatt, und die beiden Freunde setzten sich schweigend in Bewegung, hinaus aus dem Kreuzgang, durch die Haupthalle hindurch. Das Kloster musste einst zu religiösen Zwecken errichtet worden sein, doch jetzt diente es als Teil der Universität. Darius konnte sich gar nicht vorstellen, dass es jemals anders gewesen sein könnte. Und doch zeugten die kunstvollen Skulpturen und Details von einer tieferen, mystischen Bedeutung dieses Ortes. Die Hauptpforte war, vielleicht anders als zu früheren Zeiten des Klosterlebens, niemals abgesperrt, jeder konnte kommen und gehen, wie er wollte. Und doch verbrachte er die meiste Zeit des Tages hier. Oft war er in der Bibliothek, noch viel häufiger aber saß er im Observatorium, um die Sterne zu betrachten.
    Ob er wohl jemals fertig werden würde, den ganzen Himmel zu kartographieren? Er hatte völlig den Überblick verloren. Sooft er durch das Fernrohr sah, so häufig erkannte er neue Himmelskörper und Sternbilder. Zuweilen kam ihm der Gedanke, er vergesse womöglich regelmäßig bereits erfasste Gebilde. Die Aufgabe erschien ihm zuweilen endlos und zu gewaltig für ihn und Beda. Und doch machten sie sich Nacht für Nacht aufs Neue an die Arbeit, unermüdlich, in immer wiederkehrender Einsicht in die Bedeutsamkeit ihrer Aufgabe.
    Sie hatten den Hof durchquert und waren durch den Haupteingang ins Freie getreten. Über die ausgetretenen Stufen gelangten sie in die enge Gasse, deren raues Kopfsteinpflaster im harten Mondlicht noch unregelmäßiger aussah als sonst. Man musste vorsichtig auftreten, um nicht mit den glatten Schuhsohlen abzurutschen und zu straucheln. Darius ging daher am liebsten am äußeren Rand des Weges, wo die Steine noch recht fest saßen und am wenigsten ausgetreten waren. Beda dagegen schien dies nichts auszumachen. Er lief immer in der Mitte, und die Unebenheiten schienen ihm ganz gleichgültig zu sein, ja noch nicht einmal aufzufallen. Sein Blick ging geradeaus, die Augenlider waren bei ihm schwer und halb geschlossen. Auch in ihm war offenbar jene Benommenheit, die oft das konzentrierte Arbeiten so schwer machte und das Gedächtnis trübte. Einige seiner langen, teilweise schon ergrauten Haare hatten sich aus seinem Hinterzopf gelöst und wehten ihm permanent in das Gesicht. Er kümmerte sich nicht darum.
    Beda war nicht alt. Seine bleichen, aristokratischen Gesichtszüge wirkten eher jugendlich, und dennoch verrieten Ausdruck und Physiognomie etwas lange Erfahrenes, Weises. Darius, dessen Haar noch gänzlich schwarz war, fühlte sich an seiner Seite oft wie ein jüngerer Bruder. Beda war einer seiner allerersten Bekanntschaften gewesen, vor langer Zeit, als Darius in die Stadt gekommen war, unendlich weit früher, jenseits seiner Erinnerung. Er hatte ihn eingewiesen in alles, ihm Sitten und Gebräuche erklärt, den Ablauf der Tage, die Feste, die Aufgaben, die zu erfüllen waren. Es war ihm so, als sei Beda ein untrennbarer Bestandteil der Stadt und er war ihm so vertraut geworden, als kenne er ihn schon ewig, obwohl er wusste, dass es etwas davor geben musste. Taten sie einmal etwas getrennt, so fühlte er sich oft unsicher, und die bloße Gewissheit, dass er in seiner Nähe war, genügte, um Frieden und Geborgenheit einkehren zu lassen. Beda sprach nicht viel, doch er verstand es, mit wenigen Worten und einigen Blicken das auszudrücken, was notwendig war. Aber am bedeutendsten war das leise, überlegene und doch wohlwollende Lächeln, das sich oft um seine Mundwinkel legte, die oft gewollt leicht blasiert hochgezogenen Augenbrauen und das ironische Blinzeln dazu; dies zeigte Darius stets, dass alles in Ordnung war, und er fühlte sich sicher.
    Es war nur noch ein kurzer Weg zu einem der Tempeleingänge. Sie passierten den Ygâr-Dá, den Großen Turm des Schlafes , überquerten die Westbrücke und gelangten über eine der steilen Treppen auf die größere Mittelstraße. Andere Tempelgänger hatten sich zu ihnen gesellt. Jeder in der Stadt hatte sich, wie üblich,
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