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Die sanfte Hand des Todes

Die sanfte Hand des Todes

Titel: Die sanfte Hand des Todes
Autoren: Abbie Taylor
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zeigte Dawn der neuen Schwesternschülerin die Station. Die chirurgische Abteilung im obersten Stock des alten, viktorianischen Seitenflügels hatte nicht immer als Krankenhaus gedient; ursprünglich war St. Iberius im neunzehnten Jahrhundert als Heim für Witwen und Waisen erbaut worden. Die länglichen, hohen Schlafsäle mit den vergitterten Fenstern waren zugig und im Winter nur schwer zu heizen, und einzig die dünnen, blauen Vorhänge, die sich um jedes Bett ziehen ließen, verschafften den Patienten so etwas wie eine Privatsphäre. Es gab nur einen abgetrennten Raum, das Einzelzimmer für besonders schwache Patienten oder solche mit hochinfektiösen Krankheiten – viel zu wenig für eine Station dieser Größe. Und doch hatte Dawn trotz aller Schwierigkeiten immer gern hier gearbeitet. Vom Schwesterntresen aus, der Kommandozentrale am Ende des Saals, hatte sie jeden Patienten im Blick; sie wusste zu jeder Zeit, was wo vor sich ging. In achtzehn Monaten sollte die gesamte Abteilung im Rahmen eines viele Millionen Pfund schweren Sanierungsprogramms in das benachbarte Klinikgebäude verlegt werden, ein Hochhaus aus den fünfziger Jahren. Für die Patienten wäre es natürlich von Vorteil – moderne Badezimmer, vier statt zwanzig Betten pro Raum. Trotzdem fürchtete Dawn, dass beim Umzug etwas verloren gehen würde: das Gefühl, Teil der lebendigen Krankenhausgeschichte zu sein, in die Fußstapfen all jener Schwestern zu treten, die hier gearbeitet und geholfen hatten, St. Iberius zu dem zu machen, was es heute war.
    »Dies ist der Lagerraum.« Sie öffnete die Tür, um der jungen
Schwester die Kammer zu zeigen. »Hier bewahren wir alle Medikamente und Verbandsmaterialien auf.« Sie machte die Tür wieder zu. »Die Betten dort drüben gehören zur Tagesklinik. Diese Patienten kommen für kleinere Eingriffe hierher und können noch am selben Tag wieder nach Hause gehen.«
    »Ja, Schwester.« Die Stimme der Schwesternschülerin war kaum mehr als ein Flüstern. Sie war ein kleines, blasses Mädchen mit zu einem fransigen Bob geschnittenem, mausgrauem Haar. Ihr schmales Gesicht ließ sie unreif und kindlich wirken. Dass die Oberschwester sie persönlich einwies, schien sie völlig zu überfordern. Auf ihrem Namensschild stand »Trudy Dawes«.
    Neben dem Lagerraum befand sich das Einzelzimmer, in dessen Eingangstür eine Glasscheibe eingesetzt war. Dawn konnte sehen, wie Clive Mrs. Walker mit einem Schwamm wusch. Er hatte die Laken am Fußende des Bettes zusammengeschoben, so dass die alte Dame vor Kälte zitternd auf der Matratze lag, splitternackt und für alle, die auf dem Korridor vorbeiliefen, gut zu erkennen.
    Dawn runzelte die Stirn. Sie klopfte an die Glasscheibe und öffnete die Tür einen Spalt breit. »Ist alles in Ordnung, Clive?«
    Clive warf den Schwamm in die Waschschüssel und verspritzte Wasser auf dem Bett. Er schien über die Störung verärgert. »Ihr ist ein Malheur passiert. Und jetzt muss ich sie sauber machen.«
    »Sollten Sie nicht vorher die Jalousie herunterlassen? Vielleicht wünscht sich Mrs. Walker ein wenig Privatsphäre.«
    »Die Jalousie ist kaputt«, entgegnete Clive, »sie schließt nicht. Außerdem, sehen Sie sie sich doch an.« Er nickte in Richtung der Patientin. »Die ist dumm wie Stroh. Die weiß ja nicht einmal, wo sie gerade ist.«

    Dawn starrte Clive an – seine gleichgültige Miene, sein fettiges Haar, das ihm bis auf die Schultern fiel, den ungepflegten Dreitagebart, der seine Kinnpartie bedeckte wie ein Ekzem. Es waren Menschen wie Clive, die Dora eine solche Angst vor Krankenhäusern eingeflößt hatten. Aber es war nicht Dawns Art, ihre Mitarbeiter im Beisein von Patienten oder Schwesternschülerinnen zurechtzuweisen, deswegen sagte sie nur: »Mrs. Walker scheint sich unwohl zu fühlen. Hat sie ihre Schmerztabletten schon bekommen?«
    »Ich habe ihr vor einer Stunde etwas Morphium gespritzt.«
    »Nun ja, es scheint nicht zu wirken. Geben Sie mir den Schlüssel, dann hole ich noch mehr.«
    Dawn ließ sich die Schlüssel für den Tresor im Lagerraum aushändigen. Trudy Dawes folgte ihr. Dawn betätigte den Lichtschalter. Die Neonröhre erwachte flackernd und zuckend zum Leben und warf ihr fahles Licht auf weiß glänzende Regale und Schubladen voller Verbände, Medikamente, Nadeln und Spritzen.
    »Mrs. Walkers Tumor drückt auf ihre Nerven«, erklärte Dawn. »Deswegen hat sie starke Schmerzen. Hast du schon einmal eine Morphiumspritze gesehen?«
    »Nein,
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