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Die sanfte Hand des Todes

Die sanfte Hand des Todes

Titel: Die sanfte Hand des Todes
Autoren: Abbie Taylor
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Murray mit der Lungenembolie, Mr. Ugabe mit dem amputierten Bein. Sie verhedderten sich in den Laken, schafften es nicht aus dem Bett, waren dazu verdammt, liegen zu bleiben und in Todesangst die Flammen herankriechen zu sehen.
    Sie musste umkehren, schließlich trug sie die Verantwortung für diese Menschen; sie würde sie nicht im Stich lassen. Sie verließ das Treppenhaus und tastete sich auf die Station zurück.
    »Schwester!«, weinte jemand. »Helfen Sie uns.«
    »Ich komme. Haltet durch.« Aber der Rauch wurde immer dichter, kratzte im Hals und stach in den Augen. Dawn blinzelte und streckte die Arme aus, um den Weg zu ertasten.
Immer wieder glaubte sie, die Stationstüren gefunden zu haben, aber dann stellte sich jedes Mal heraus, dass sie wieder nur vor einer Wand gelandet war. Als die Flammen die Betten erreichten, verwandelte sich das Weinen der Patienten in Schmerzgeheul. Auch Dawn schrie.
    Sie war völlig aufgelöst aufgewacht. Alles war ihr ganz real erschienen: der heiße, beißende Qualm, das Gefühl der Hilflosigkeit, die Todesangst. Doch nachdem sie aufgestanden war und im Morgenmantel in der Küche, wo die Sonne durch die Milchglasfenster der Hintertür hereinschien, einen Schluck Tee getrunken hatte, kehrten ihre Lebensgeister zurück. Dawn verstand ihren Traum. In letzter Zeit hatte sie in der Zeitung immer wieder von der befürchteten Grippewelle gelesen. Sogar im Parlament war die Frage diskutiert worden. Werden unsere Krankenhäuser den Ansturm bewältigen können?
    Das hatte Dawn sich auch gefragt. Seit man sie zur Oberschwester befördert hatte, war sie nicht nur für die täglichen Abläufe auf der Station zuständig, sondern auch für die Entwicklung zukunftsweisender Konzepte für St. Iberius.
    Schon jetzt platzte die Notaufnahme aus allen Nähten, lagen die Patienten dort wie Sardinen in der Dose. Fast täglich wurden Operationen abgesagt, weil Betten fehlten. Was um alles in der Welt sollten sie tun, falls die Patientenzahl eines Tages überraschend explodierte?
    Dabei gab es in der Klinik durchaus einen Notfallplan. Dawn hatte ihn mit nach Hause genommen und studiert. Die zweihundert eng bedruckten Seiten ließen sich im Grunde auf zwei Punkte reduzieren: Erstens sollte im Notfall zusätzliches Personal eingestellt werden, zweitens sah der Plan vor, überzählige Patienten an andere Krankenhäuser weiterzuleiten. Der gesamte Ansatz erinnerte stark an die Vogel-Strauß-Taktik. Was, wenn es zu einer stadtweiten
Katastrophe kam und die anderen Kliniken ebenfalls überfüllt waren? Dawn stellte sich das von Menschen wimmelnde Hospital vor, die Flure voller verletzter, blutender Menschen, während immer mehr durch die Türen hereinströmten. Seit ihrem Traum wurde sie eine dunkle Vorahnung nicht mehr los. Katastrophen ereigneten sich in gewissen Zyklen. Etwas Furchtbares würde passieren; es war nur eine Frage der Zeit. Und wenn der Ernstfall eintrat, wäre es überlebenswichtig, gut vorbereitet zu sein.
    Dawn arbeitete bis spät in den Abend, las Vergleichsstudien aus anderen Ländern, machte sich Notizen zu den Stichpunkten technische Ausrüstung, Stromversorgung und Infektionsraten. Um elf wurde sie müde und räumte die Unterlagen beiseite. Milly wartete an der Hintertür auf ihren Abendspaziergang.
    Die Aprilnacht war feucht und kühl. Das Licht fiel als leuchtend gelbes Rechteck durchs Küchenfenster auf den Rasen. Irgendwo hinter dem Haus jaulte kläglich ein Hund. Dawn blieb auf der Hintertreppe stehen und musste wieder an Jack Benson denken, an sein angsterfülltes Gesicht hinter der Sauerstoffmaske, an sein verzweifeltes Röcheln. Sie hatte in Sekundenbruchteilen eine Entscheidung treffen müssen, die sich glücklicherweise als die richtige erwiesen hatte. Hoffentlich wurde er bald wieder gesund.
    Wenn man sie in diesem Moment gefragt hätte, welchen ihrer Patienten von heute sie nie mehr vergessen würde, hätte sie auf Jack Benson getippt.
    Sie hätte sich geirrt.

Kapitel 2
    Dawn gähnte und drückte zum fünften Mal auf den Aufzugknopf. In letzter Zeit kam sie immer schlechter aus dem Bett, und das kalte, regnerische Wetter machte es nicht gerade besser; man hätte meinen können, es wäre Winter und nicht Ende April. Mit glasigen Augen betrat sie den Lift. Ihr Blick fiel auf das riesige Poster: Internationale Forschungskonferenz im St. Iberius. Gastvortrag mit Gratismittagessen. Alle Mitarbeiter sind herzlich eingeladen . Seit Wochen hing dieses Poster überall im Krankenhaus
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