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Spin

Spin

Titel: Spin
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4 x 10 9 N. CHR.
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    Wir alle fallen, und ein jeder landet irgendwo.
    Diane und ich mieteten uns also ein Zimmer im dritten Stock eines im Kolonialstil gehaltenen Hotels in Padang, wo wir für eine Weile unbemerkt bleiben würden.
    Für neunhundert Euro die Nacht kauften wir uns Ungestörtheit und einen Balkonausblick auf den Indischen Ozean. Bei gutem Wetter – und daran hatte in den letzten Tagen kein Mangel geherrscht – konnten wir den nächstgelegenen Teil des Torbogens sehen: eine wolkenfarbene vertikale Linie, die sich aus dem Horizont erhob und, immer weiter aufsteigend, im blauen Dunst verschwand. So eindrucksvoll allein dies schon wirkte, war es doch nur ein Bruchteil des gesamten Bauwerks, den man von der Westküste Sumatras aus sehen konnte. Das entferntere Ende des Torbogens tauchte bis zu den unterseeischen Gipfeln des Carpenter Ridges hinab, überspannte den Mentawai-Graben wie ein in einer flachen Pfütze stecken gebliebener Ehering. Auf dem Land hätte er sich von Bombay an der Ostküste Indiens bis nach Madras im Westen erstreckt. Oder sagen wir, ganz grob geschätzt, von New York bis nach Chicago.
    Diane hatte den Nachmittag auf dem Balkon verbracht, schwitzend im Schatten eines Sonnenschirms mit ausgeblichenen Streifen. Die Aussicht faszinierte sie, und ich war froh und erleichtert darüber, dass sie – nach allem, was geschehen war – noch immer Vergnügen an solchen Dingen empfinden konnte.
    Bei Sonnenuntergang setzte ich mich zu ihr. Sonnenuntergang war die schönste Zeit. Ein Frachter, der an der Küste entlang zum Hafen von Teluk Bayur schipperte, wurde auf dem dunklen Wasser zu einer sanft dahingleitenden Lichterkette. Das nahe Bogenende schimmerte wie ein roter Nagel, der den Himmel ans Meer befestigte. Wir beobachteten, wie der Schatten der Erde, während die Stadt dunkel wurde, an dem Pfeiler emporkletterte.
    Es war eine, nach dem berühmten Zitat von Arthur C. Clarke, »von Magie nicht zu unterscheidende« Technologie. Was sonst, wenn nicht Magie, würde den steten Fluss der Luft und des Meeres vom Golf von Bengalen bis zum Indischen Ozean ermöglichen, gleichzeitig aber Überwasserfahrzeuge in gänzlich unvertraute Häfen transportieren? Und was war das für ein Wunder der Ingenieurskunst, das ein Bauwerk mit einem Radius von eintausend Kilometern sein eigenes Gewicht tragen ließ? Woraus war es gemacht, wie stellte es das alles an?
    Jason Lawton wäre vielleicht in der Lage gewesen, diese Fragen zu beantworten. Aber Jason war nicht bei uns.
    Diane lümmelte auf einem Liegestuhl, ihr gelbes Sommerkleid und der breite Strohhut wurden in der zunehmenden Dunkelheit zu bloßen Schattenrissen. Ihre Haut war rein, glatt, nussbraun. Es war bezaubernd, wie das letzte Licht in ihren Augen glänzte, doch ihr Blick war immer noch wachsam – daran hatte sich nichts geändert.
    Sie sah zu mir hoch. »Du bist schon den ganzen Tag so zapplig.«
    »Ich überlege, ob ich etwas schreibe«, erwiderte ich. »Bevor es anfängt. Memoiren sozusagen.«
    »Angst davor, dass du alles verlierst? Aber das ist irrational, Tyler. Es ist nicht so, dass deine Erinnerung gelöscht würde.«
    Nein, nicht gelöscht, aber möglicherweise eingetrübt, geschwächt, verwischt. Die anderen Nebenwirkungen der Substanz waren vorübergehend und zu ertragen, doch die Möglichkeit eines Gedächtnisverlustes schreckte mich.
    »Außerdem«, fuhr sie fort, »spricht alles dafür, dass es gut geht. Das weißt du selbst am besten. Ein Risiko gibt es zwar… aber es ist eben nur ein Risiko, und ein kleines noch dazu.«
    Und sofern dieser Fall bei ihr eingetreten war, konnte man eigentlich nur froh darüber sein.
    »Trotzdem«, sagte ich. »Mir ist wohler, wenn ich etwas aufschreibe.«
    »Also, du musst nicht, wenn du jetzt noch nicht möchtest. Du weißt selber, wann du bereit bist.«
    »Nein, ich will es tun.« Jedenfalls redete ich mir das ein.
    »Dann muss es heute Abend sein.«
    »Ich weiß. Aber in den nächsten Wochen…«
    »Wirst du zum Schreiben wahrscheinlich keine Lust haben.«
    »Es sei denn, ich kann nicht anders.« Schreibwut gehörte zu den harmloseren der möglichen Nebenwirkungen.
    »Mal sehen, was du denkst, wenn die Übelkeit einsetzt.« Sie schenkte mir ein Lächeln. »Vermutlich haben wir alle etwas, das wir nicht loslassen wollen.«
    Das war eine beunruhigende Bemerkung, ich mochte gar nicht darüber nachdenken.
    »Was soll’s«, sagte ich. »Vielleicht sollten wir einfach anfangen.«
    Die Luft
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