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Die sanfte Hand des Todes

Die sanfte Hand des Todes

Titel: Die sanfte Hand des Todes
Autoren: Abbie Taylor
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die wächserne Haut. »Ich dachte, ich könnte Clive vertrauen. Wenn der Patient in Bett zehn nicht den Vorhang geöffnet hätte, um sich Kopfhörer zu holen …« Sie erschauderte.
    Francine hob eine Augenbraue. »Kaffee?«
    »Ja, liebend gern.«
    Francine schaltete den Wasserkocher in der winzigen, nach Toast duftenden Teeküche der Intensivstation ein und gab etwas Instantpulver in zwei Becher.
    »Clive ist der neue Pfleger, oder?«, rief sie von der Spüle aus. »Sieht ein bisschen verlottert aus, der Typ. Der könnte wohl auch mal eine Dusche gebrauchen … Vielleicht hat er einfach nicht gemerkt, wie ernst die Lage war.«
    »Aber er ist kein Anfänger mehr.« Dawn ging vor dem Kühlschrank in die Hocke, um die Milch zu suchen. »Und es war nicht das erste Mal. Er hat schon andere Patienten vernachlässigt
und den ganzen Vormittag ohne Getränke allein gelassen. Was soll ich tun, Fran?« Sie fand die Milch, stand auf und schloss die Kühlschranktür mit der Hüfte. »Er ist schon über zwei Monate hier, scheint sich aber überhaupt nicht für seine Arbeit zu interessieren.«
    Es tat gut, nach dem hektischen Vormittag etwas Dampf abzulassen. Dawn und Francine kannten sich seit Ewigkeiten. Sie arbeiteten auf derselben Krankenhausetage, Francine auf der Intensivstation und Dawn in der chirurgischen Abteilung. Die schlanke, blonde Francine wirkte so zerbrechlich wie die kostbaren, in Seidenpapier verpackten Porzellanpuppen, die man auf Sammlermessen kaufen konnte. Ihre zarte Erscheinung – die gertenschlanke Figur, der schicke Haarknoten – verbarg die Tatsache, dass sie eine erfahrene Stationsleiterin war und durchaus in der Lage, sich durchzusetzen. Als sie und Dawn sich im letzten Jahr gleichzeitig auf den Posten der Oberschwester der chirurgischen Abteilung beworben hatten, hatte die Klinikleitung mit der Entscheidung lange gezögert. Dawn fragte sich manchmal, ob sie den Job nur bekommen hatte, weil Francine im Bewerbungsgespräch so zurückhaltend gewesen war.
    »Über den Nachwuchs kann man sich heutzutage nur noch wundern«, meinte Francine. »Neulich hatte ich eine Schwesternschülerin da, die es nicht einmal geschafft hat, sich zwischen zwei Patienten die Hände zu waschen. Egal, wie oft ich sie daran erinnert habe, sie hat jedes Mal die Augen aufgerissen und gesagt: ›Oh, Verzeihung, Schwester, das habe ich ganz vergessen.‹ Neulich saß sie hier und hat ein Sandwich gegessen und sich laut über den seltsamen Geschmack gewundert … und beim letzten Bissen hat sie dann gemerkt, dass sie Kot an den Händen hatte.«
    »Das gibt’s doch nicht!« Dawn verschluckte sich fast an ihrem Kaffee.

    »Tja! Heutzutage hat keiner mehr so hohe Ansprüche wie wir, und ganz besonders nicht so hohe wie du, Dawn. Unglücklicherweise haben wir jedes Jahr mehr Patienten zu versorgen, und das mit immer weniger Personal. Manchmal muss man sich zufriedengeben mit dem, was man hat, oder? Gib diesem Clive eine Chance. Du kannst nicht alles selbst machen.«
    »Nein. Du hast recht.«
    Dawn leerte ihre Tasse und stand auf, um den Becher auszuspülen. Francine beobachtete sie von dem kleinen Tisch in der Ecke aus.
    »Dawn … ist alles in Ordnung?«
    »Natürlich. Warum?«
    »Du siehst müde aus. Du bist nicht mehr die Alte. Zuerst die Schufterei den ganzen Tag hier, dann noch deine kranke Großmutter. Das muss hart gewesen sein.«
    »Es war nicht so schlimm.« Dawn spritzte etwas Spülmittel in den Becher. »Außerdem hat Dora sich bis zuletzt geweigert, ins Krankenhaus zu gehen. Sie sagte, das wäre kein Ort für alte Menschen.«
    »Tja, ein Glück, dass sie dich hatte«, meinte Francine. »Und du bist einen Tag nach der Beerdigung wieder zur Arbeit gekommen. Einen Tag danach! Das war nicht richtig, Dawn. So was ist nicht gesund. Warum gönnst du dir nicht eine Pause, jetzt, wo alles vorbei ist? Und erholst dich ein bisschen?«
    »Das werde ich, Fran. Aber im Moment ist auf der Station einfach zu viel los. Der Zeitpunkt ist ungünstig …«
    In der Tür erschien ein angstverzerrtes Gesicht.
    »Schwester Hartnett, können Sie schnell kommen? Der Mann in Bett neun hat sich den Beatmungsschlauch rausgerissen.«
    »Ich bin gleich bei dir, Seema.« Als die Schwesternschülerin verschwunden war, sagte Francine: »Hör mal, ich weiß,
wie du dich fühlst. Mir geht es ähnlich. Wir sind wohl beide ein bisschen … auf die Arbeit fixiert. Das muss man auch sein, um diesen Job zu schaffen. Aber man braucht auch noch etwas
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