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Die sanfte Hand des Todes

Die sanfte Hand des Todes

Titel: Die sanfte Hand des Todes
Autoren: Abbie Taylor
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aus. Das St. Iberius war extrem stolz auf seinen Ruf, zu den Topforschungszentren in Europa zu gehören. Dawn warf einen Blick auf ihre Armbanduhr: fünf nach sieben. Sicher bereitete sich Professor Kneebone gerade auf die Morgenvisite vor.
    Wie immer begann die Visite im Einzelzimmer, das im vorderen Teil der Station lag. Der Professor und Dawn betraten den Raum als Erste, gefolgt von der üblichen Phalanx aus Assistenzärzten, Pflegern und Medizinstudenten.
    »Wie geht es Ihnen heute?«, fragte Professor Kneebone laut und deutlich vom Fußende des Bettes aus.
    Mrs. Ivy Walker wachte aus ihrem Dämmerzustand auf und starrte verwirrt in die Runde: Dawn mit dem großen roten Stationsbuch in der Hand; Professor Kneebone, klein und wie immer tadellos gekleidet in seinem grauen Maßanzug; Dr. Coulton, der neue Unfallchirurg mit dem makellos weißen Kittel und dem üblichen selbstgefälligen Gesichtsausdruck. Hinter ihnen kamen die Medizinstudenten,
von denen einige eifrig bei der Sache waren, andere hingegen ein Gähnen unterdrücken mussten. Ganz hinten stand die neue Schwesternschülerin, leicht zu erkennen an der schlichten weißen Tunika und der weißen Hose. Sie drückte sich an die Wand und war ganz offensichtlich bemüht, sich möglichst unsichtbar zu machen.
    Professor Kneebone beugte sich noch weiter vor.
    »Ich fragte«, rief er, »wie es Ihnen geht?«
    Mrs. Walker sank in die Kissen zurück und zog sich das Laken bis ans Kinn. Ihre Lippen bewegten sich. Sie sprach mit leiser, zittriger Stimme. »Ich möchte weg.«
    »Wohin denn?«
    »In den Südpazifik.«
    Professor Kneebone drehte sich zu Dawn um und hob eine Augenbraue. Dawn zuckte die Achseln.
    »Das sagt sie immer. Dass sie irgendwohin will. Es fällt ihr schwer, uns zu sagen, was sie wirklich möchte.«
    »Ich verstehe.« Professor Kneebone warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Nun ja, Schwester, die Ergebnisse der Computertomografie sind eingetroffen. Die Schmerzen, die sie im Altenheim geplagt haben …«
    »Ja?« Dawn bedeutete ihm, vom Bett der Patientin wegzutreten und mit ihr an die Tür zu kommen.
    »Ich habe schlechte Nachrichten, tut mir leid. Sie hat Eierstockkrebs.«
    Dawn warf einen flüchtigen Blick zu Mrs. Walker hinüber, die aber nichts gehört zu haben schien und den Blick verwirrt über die Runde schweifen ließ.
    »Die Ärmste«, sagte Dawn leise. »Wie viel Zeit bleibt ihr noch?«
    »Ein paar Monate. Höchstens.«
    »Was ist mit einer Operation?«, fragte einer der Studenten. »Wäre das keine Lösung?«

    »Nein, wohl kaum«, antwortete Professor Kneebone. »Die Klinik schwimmt ja nicht gerade im Geld. Eine Frau in ihrem Alter, und dazu noch Alzheimer …« Er hielt inne, warf einen kurzen Blick zum Bett hinüber. Dann hob er den Zeigefinger und winkte den Studenten zu sich.
    »In solch einem Fall muss man sich klarmachen«, flüsterte er, fast ohne die Lippen zu bewegen, »dass die Frau schon vor Jahren gestorben ist, nur dass ihr Herz noch schlägt.«
    Die Studenten, die meist jung und idealistisch waren und noch davon träumten, die Welt zu verbessern, tauschten schockierte Blicke aus. Für Dawn war die kühle Sachlichkeit der Belehrung nichts Neues. Mit seiner Prognose lag Geoffrey Kneebone vermutlich richtig, und ob man es sich nun eingestehen wollte oder nicht – das Budget der Klinik war tatsächlich begrenzt. Trotzdem fühlte sie sich auf einmal an ein Gespräch mit ihrer Großmutter erinnert. Es war um die Zeit gewesen, als Doras Schmerzen immer stärker wurden.
    »Bitte«, hatte Dawn sie angefleht, »komm ins Krankenhaus. Nur für kurze Zeit. Dort kann ich viel mehr für dich tun.«
    Dora hatte nur den Kopf geschüttelt. »Am schönsten ist es daheim. So alte Menschen wie ich sind im Krankenhaus nicht gern gesehen.«
    »Natürlich sind sie das.« Dawn hatte sich aufs Bett gesetzt und die Hand ihrer Großmutter gestreichelt. »Wie kommst du denn darauf? Du hast ein Recht, dort zu sein, so wie jeder andere Mensch auch.«
    Aber Dora war hartnäckig geblieben. »Ich weiß, was die Leute denken. Ich werde nicht irgendwohin gehen, wo ich anderen nur lästig bin. Lieber sterbe ich hier, in meinem Haus, wo ich hingehöre.«
    Das Team verließ das Zimmer; schon war man dabei, Mrs. Walker zu vergessen. Dawn ging als Letzte. Sie betrachtete
die alte Frau, die in sich zusammengesunken wie ausgemustert im Bett lag.
    »Ich komme gleich wieder«, sagte sie sanft. »Keine Sorge. Ich werde mich um Sie kümmern.«
     
    Nach der Visite
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