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Die sanfte Hand des Todes

Die sanfte Hand des Todes

Titel: Die sanfte Hand des Todes
Autoren: Abbie Taylor
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Schwester.«
    »Ich werde dir zeigen, wie es geht.« Dawn schloss den Metallschrank neben dem Spülbecken auf. »Morphium ist eine starke Droge, deswegen muss die Aufbewahrung streng kontrolliert werden. Der Schlüssel wird jeden Tag von einem anderen Pfleger oder einer anderen Schwester verwahrt. Wann immer jemand den Tresor öffnet, müssen mindestens zwei Mitarbeiter anwesend sein. Jede entnommene Ampulle wird ins Buch eingetragen, damit wir den Verbleib nachvollziehen können.«
    »Ja, Schwester.«
    Dawn hielt eine gläserne Ampulle in die Höhe, die etwa
so lang wie ein Daumen und mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt war.
    »Fällt dir etwas auf?«, fragte Dawn.
    Trudy runzelte verwirrt die Stirn. »Sie hat keinen Schraubverschluss. Sie ist ganz und gar aus Glas. Wie kriegt man sie auf?«
    »Man bricht den Hals ab.« Dawn zeigte dem Mädchen die Stelle. »Eine Sicherheitsmaßnahme, um Missbrauch zu vermeiden. Bitte sehr, versuch es einmal. Brich sie in der Mitte durch.«
    »J-ja, Schwester.«
    Trudy nestelte an der Ampulle herum, ließ die Finger über das Glas gleiten. Eine nervösere Schwesternschülerin hatte Dawn seit Ewigkeiten nicht gesehen. War sie als Berufsanfängerin ebenso unsicher gewesen? Sie versuchte, sich an ihren ersten Tag in der Klinik zu erinnern, damals, als wissbegieriges Mädchen von achtzehn Jahren, voller Ehrfurcht für Schwester Cranmer, die ihr mürrisch und uralt erschienen war. Das Erschreckende war, dass die Frau nicht viel älter gewesen sein konnte als Dawn heute. Siebzehn Jahre war das nun her. Wo um alles in der Welt waren sie nur geblieben?
    »Gut gemacht«, sagte sie, als Trudy es endlich geschafft hatte, die Ampulle zu öffnen. Dawn zog das Morphium in eine Spritze auf, die sie mit dem blauen Etikett für Opiate versah. Dann ging sie mit der Spritze in Mrs. Walkers Zimmer. Clive war fertig mit der Arbeit und längst wieder verschwunden. Mrs. Walker trug ein bedrucktes Krankenhausnachthemd aus steifem Baumwollstoff, das wie ein viel zu großes Zelt von ihren schmalen Schultern hing. Auf ihrer Stirn stand Schweiß. Das dünne, schüttere Haar klebte ihr am Kopf. Über den Bildschirm des EKGs über dem Bett jagten grüne Zacken: blip-blip-blip . Ganz offensichtlich litt sie
unter Schmerzen. Sie murmelte Unverständliches vor sich hin, als Dawn sich dem Bett näherte.
    »Was ist denn, meine Liebe?« Dawn beugte sich hinunter. »Was haben Sie gesagt?«
    »Ich möchte weg.«
    »Wohin?«
    »Ich möchte nach Dagenham.«
    »Nach Dagenham, hm?« Dawn musste lächeln. »Da ist es aber längst nicht so warm wie im Südpazifik.«
    Mrs. Walker murmelte unglücklich weiter vor sich hin. Dawn bekam Gewissensbisse, weil sie sich ein wenig über die alte Dame lustig gemacht hatte. Mrs. Walkers Blick wanderte unablässig durchs Zimmer, wirr und sehnsüchtig, so als erwartete sie jemanden. Wie schrecklich es doch war, so einsam zu sein. Sich hilflos an einem unbekannten Ort wiederzufinden und nicht mehr zu verstehen, was ringsum vor sich ging, von Freunden und Familie verlassen und von Fremden umgeben zu sein.
    »Ich werde Ihnen etwas gegen die Schmerzen spritzen«, sagte Dawn. »Die Wirkung tritt nach wenigen Minuten ein.«
    Sie winkte Trudy heran, damit sie verfolgen konnte, wie Dawn das Morphium in den Tropf injizierte.
    »Das Wichtigste ist, auf die richtige Dosis zu achten«, erklärte sie. »Ein Drittel aller Komplikationen im Krankenhaus lassen sich auf menschliches Versagen zurückführen. Falls du unsicher bist, wie mit einem Patienten umzugehen ist, solltest du an die oberste Grundregel denken: Schaden abwenden.«
    »Schaden abwenden. Ich werde dran denken, Schwester.«
    Während sie darauf warteten, dass die Wirkung des Morphiums eintrat, hielt Dawn Mrs. Walkers Hand. Sie fühlte sich an wie der kühle, zerbrechliche Flügel eines Vogels. Die Hand war so ausgezehrt, dass Dawn die Knochen durch die Haut durchscheinen sah. Das graue Tageslicht, das durchs
Fenster fiel, ließ das Zimmer umso trister wirken. In der Ecke stand ein einsamer Plastikstuhl, neben dem Bett hing der Tropf mit der Nährmittellösung, darüber der EKG-Monitor. Auf dem Nachttisch standen eine Box mit Taschentüchern und ein Wasserglas, auf dessen Grund ein Gebiss lag. Das war alles. Keine Bücher, keine Pralinen, keine selbst gebastelten Karten mit Wünschen wie Gute Besserung, Oma . Es war, als hätte die Welt draußen diese Frau vergessen.
    Mrs. Walker schien auf die Berührung zu reagieren. Der gebrechliche
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