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Die sanfte Hand des Todes

Die sanfte Hand des Todes

Titel: Die sanfte Hand des Todes
Autoren: Abbie Taylor
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sagte Dawn: »Möchten Sie nicht einmal vorbeikommen und Ihre Tante besuchen?«
    Heather Warmington lachte auf. »Schwester, Sie haben sie doch gesehen. Wozu sollte ich sie besuchen? Sie könnte mich nicht von der Putzfrau unterscheiden.«
    Dann, als hätte sie bemerkt, wie ihre Worte klangen, schlug sie einen anderen Ton an. »Hören Sie, ehrlich gesagt kenne ich sie gar nicht so gut. Die vom Pflegeheim haben mich nur deswegen als nächste Angehörige eingetragen, weil meine Tante niemanden sonst hat.«
    »Sie hat keine weiteren Verwandten? Keine Kinder?«
    »Meine Mutter hat mir mal erzählt, sie hätte ein Kind gehabt, aber das sei schon als Baby gestorben. Und ihren Ehemann habe ich noch nie gesehen. Es ist, wie ich sagte – ich kannte sie kaum. Sie hat jahrelang im Ausland gelebt und weder zu meiner Mutter noch zu anderen Verwandten Kontakt gehalten. Und ich lebe kilometerweit entfernt und muss
mich um meine eigenen Kinder kümmern, also …« Sie verstummte.
    »Ich dachte«, sagte Dawn, »dass es vielleicht besser wäre, sie in einem anderen Pflegeheim unterzubringen.«
    »Aber ihr Vormund hat sich für dieses Pflegeheim entschieden«, entgegnete Heather Warmington. »Außerdem weiß sie sowieso nicht, wo sie gerade ist, dann macht es doch keinen Unterschied.«
    Dawn schwieg.
    Heather Warmington seufzte. »Hören Sie«, sagte sie, »ich weiß, dass meine Tante eine für ihre Zeit sehr emanzipierte Frau war. Sie hat die ganze Welt bereist – allein, was damals sehr ungewöhnlich war. Wenn sie wüsste, wie es um sie steht, fände sie ihre Lage unerträglich. Den ganzen Tag im Bett zu liegen, nicht mehr allein essen zu können, niemanden wiederzuerkennen. Das ist doch würdelos. Um Gottes willen, sie ist vierundachtzig Jahre alt. Und nun hat sie auch noch Krebs. Warum ihr Leiden verlängern? Können Sie ihr nicht einfach … Sie wissen schon, ihr irgendwas geben?«
    »Mrs. Warmington …«
    »Ich weiß, Schwester, ich weiß. Ein Menschenleben ist heilig und so weiter. Hören Sie, tut mir leid, aber ich habe nun wirklich keine Zeit mehr. Um drei muss ich die Kinder abholen.«
    Sie legte auf.
    »Wieder mal der Vorschlag mit dem Gnadenschuss?« Mandy, eine der Stationsschwestern, stand am Tresen und füllte ein Formular aus. »Wahrscheinlich kann sie es gar nicht abwarten, endlich das Erbe anzutreten.«
    »Ich glaube, da gibt’s nichts zu erben«, meinte Dawn.
    »Nein?« Mandy klappte den Ordner zu. »Tja, vielleicht hat sie recht. Manchmal muss man sich doch wirklich fragen, was diese alten Leute noch vom Leben haben. Andererseits –
wo hört es auf? Als Nächstes sind die nervigen Verwandten dran. Und wer weiß, wer dann an die Reihe kommt?« Verschwörerisch ließ sie den Blick umherwandern. »Vielleicht ein Kollege? – Kannst du glauben, dass Rüpel Ed behauptet hat, wir würden das Morphium nicht nach Vorschrift verteilen? Arrogantes Arschloch.«
    Vor dem Ende ihrer Schicht sah Dawn noch einmal nach Mrs. Walker. Ihre Schmerzen hatten immer noch nicht nachgelassen. Am meisten schien ihr der Rücken wehzutun. Dawn versuchte alles, was ihr einfiel: Sie rollte die Patientin von einer Seite auf die andere und stopfte ihr Kissen unter das knochige Rückgrat, um das Gewicht zu verteilen. Aber nichts half. Sie ließ die alte Dame nur ungern allein. Nachts arbeiteten nur drei Pflegekräfte auf der Station, im Gegensatz zu tagsüber, wenn vier im Dienst waren. Die Kollegen würden nur im Notfall Zeit für Mrs. Walker haben. Dawn beschloss, noch für eine kleine Weile auf der Station zu bleiben und in einer Stunde noch einmal nach der alten Dame zu sehen. In der Zwischenzeit würde sie sich ins Büro setzen und an ihrem Notfallplan arbeiten.
    Das Oberschwesterbüro am hinteren Ende der Station war eigentlich nur eine große Kammer mit einem breiten Schreibtisch, einem Aktenschrank und zwei Stühlen. An der Wand hing ein Notizbrett aus Kork, an das Dawn die vielen Dankesschreiben ihrer Patienten geheftet hatte. »Liebe Oberschwester, danke für die liebevolle Betreuung meines Vaters.« »Liebe Schwester Torridge, ich hatte große Angst vor meiner Operation, aber Sie haben es mir leicht gemacht.« »Liebe Oberschwester, vielen Dank dafür, dass Sie immer wussten, was ich gerade brauche, selbst als ich zu schwach zum Reden war.« Normalerweise genoss Dawn den Anblick, aber heute Abend schienen die Grußkarten sie zu verspotten. Sie ließ sich auf den Schreibtischstuhl sinken
und klappte den großen roten Ordner
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