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Maigret zögert

Maigret zögert

Titel: Maigret zögert
Autoren: Georges Simenon
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    Morgen, Janvier!«
    »Guten Morgen, Chef!«
    »Morgen, Lucas! Morgen, Lapointe!«
    Maigret musste lächeln, als er den jungen Lapointe begrüßte. Nicht nur, weil dieser einen neuen, sehr gut sitzenden grauen Anzug mit roten Nadelstreifen trug. Alle lächelten an diesem Morgen; auf den Straßen, im Autobus, in den Geschäften.
    Am Vortag, einem Sonntag, war es trübe und windig gewesen, mit kalten Regenschauern, die an den Winter erinnerten. Und heute Morgen beim Aufwachen war plötzlich Frühling, dabei schrieb man erst den vierten März.
    Gewiss, die Sonne war noch ein wenig blass, das Blau des Himmels fast transparent, aber es lag eine Fröhlichkeit in der Luft und in den Augen der Passanten. Man war sich irgendwie einig: Es war schön, zu leben und wieder den würzigen Duft des morgendlichen Paris einzuatmen.
    Maigret trug einen Sakko. Er hatte ein gutes Stück seines Weges zu Fuß zurückgelegt. Im Büro angekommen, hatte er sofort das Fenster geöffnet. Auch die Seine hatte ihre Farbe verändert, die roten Streifen auf den Kaminen der Schlepper leuchteten heller als sonst, und die Kähne sahen wie neu aus.
    Er hatte die Tür zum Büro der Inspektoren geöffnet.
    »Kommt ihr, Jungs?« Er rief sie zu dem, was man den »kleinen Rapport« nannte, im Gegensatz zu dem richtigen Rapport um neun Uhr, bei dem sich die Kreiskommissare um den großen Chef versammelten. Aber jetzt nahmen nur Maigrets engste Mitarbeiter teil.
    »Schönen Tag verbracht, gestern?« fragte er Janvier.
    »Bei meiner Schwiegermutter in Vaucresson. Die Kinder waren mit.«
    Lapointe, den sein neuer, fast sommerlicher Anzug verlegen machte, hielt sich im Hintergrund.
    Maigret setzte sich an seinen Schreibtisch, stopfte seine Pfeife und begann, die Post durchzusehen.
    »Für dich, Lucas. Es betrifft den Fall Lebourg.«
    Er hielt Lapointe einige andere Dokumente hin.
    »Die müssen zur Staatsanwaltschaft.«
    Richtiges Laub war es noch nicht, aber die Bäume am Quai hatten doch schon einen blassgrünen Schimmer.
    Es gab keinen bedeutenden Fall im Moment, keine dieser Fälle, bei denen sich in den Fluren der Kriminalpolizei Reporter und Fotografen drängen und sich allerhöchste Stellen zu gebieterischen Telefonanrufen veranlasst sehen. Nur das Übliche, Alltägliche, das erledigt werden musste.
    »Ein Verrückter oder eine Verrückte«, ließ er verlauten, als er einen Briefumschlag in die Hand bekam, auf dem in Druckbuchstaben sein Name und die Adresse des Quai des Orfevres standen.
    Es war ein weißer Umschlag bester Qualität. Abgestempelt war er vom Postamt in der Rue de Miromesnil. Das erste, was dem Kommissar auffiel, als er den Briefbogen herauszog, war die Art des Papiers: schweres, knisterndes Velin in einem ungewöhnlichen Format. Offenbar hatte man den Briefkopf abgeschnitten, und man hatte diese Arbeit sehr sorgfältig mit Hilfe eines Lineals und einer sehr scharfen Klinge ausgeführt.
    Wie die Adresse war auch der Text in sehr regelmäßigen Druckbuchstaben geschrieben.
    »Vielleicht doch nicht verrückt«, murmelte er.
    Sehr geehrter Herr Kreiskommissar,
    Ich kenne Sie nicht persönlich, aber was ich über Ihre Untersuchungen und Ihr Verhalten Kriminellen gegenüber gelesen habe, gibt mir Vertrauen. Dieser Brief wird Sie erstaunen. Werfen Sie ihn nicht voreilig in den Papierkorb. Dies ist weder ein Scherz noch das Werk eines Irren.
    Sie wissen besser als ich, dass die Wahrheit oft unglaublich ist. Ein Mord wird demnächst begangen werden, wahrscheinlich schon in den nächsten Tagen. Vielleicht von jemandem, den ich kenne, vielleicht von mir selbst.
    Ich schreibe Ihnen nicht, um ihn zu verhindern. Das Drama ist sozusagen unabwendbar. Aber ich möchte, dass Sie, wenn es passiert, darum wissen.
    Wenn Sie mich ernst nehmen, so inserieren Sie bitte unter den Kleinanzeigen des Figaro oder Monde folgenden Text: K. R. Erwarte zweiten Brief.
    Ich weiß nicht, ob ich ihn schreiben werde. Ich bin sehr verwirrt. Gewisse Entscheidungen sind schwer zu treffen.
    Ich werde Sie vielleicht eines Tages in Ihrem Büro sehen, aber dann werden wir durch eine Schranke getrennt sein.
    Ihr Ergebener
    Er lächelte nicht mehr. Mit gerunzelten Brauen ließ er seinen Blick über das Blatt gleiten, schaute dann seine Mitarbeiter an.
    »Nein, ich glaube nicht, dass es sich um einen Verrückten handelt«, wiederholte er. »Hört zu!«
    Er las ihnen den Text langsam vor, wobei er bestimmte Wörter betonte. Briefe dieser Art hatte er schon öfter bekommen, aber
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