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Die Rückkehr der Zehnten

Titel: Die Rückkehr der Zehnten
Autoren: Nina Blazon
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Das Medaillon
     
    L
    evin würde sterben. Schon zum dritten Mal sauste das Schwert des Schattenfressers auf ihn herab und traf ihn mit voller Wucht an der Schulter. Einen Moment gelang es ihm noch, sich auf den Beinen zu halten, dann siegten Schmerz und Erschöpfung. Mit schmerzverzerrtem Gesicht ging der Hohepriester in die Knie. Die Schattengestalten heulten triumphierend auf und bildeten um ihn herum einen magischen Kreis. Ihre schwarzen Kutten flatterten im Frühlingswind. »Gronjan gooor!«, riefen sie.
    Ihre dumpfe Beschwörung wurde immer lauter, während sie qualvoll langsam ihre Schwerter zum Todesstoß hoben. Die Nachmittagssonne, die auf die Lichtung im Wald fiel, ließ die Edelsteine, mit denen die Klingen verziert waren, aufblitzen.
    Levin keuchte. Wirr hingen ihm die hellen, halblangen Haare ins Gesicht, sein Mantel war nass und schmutzig vom Schlamm auf dem Waldboden. Kurz bevor die Gestalten mit den maskenhaften schwarzen Fratzen zustoßen konnten, sprang er mit übermenschlicher Kraft auf die Beine und riss seinen Priesterstab hoch. »Karjan seeem!«, brüllte er mit der Kraft der Verzweiflung. »Bog Swantewiiit!«
    Schon hatte er zwei der Gestalten zurückgedrängt und mit dem Zauber seines Priesterstabs in die Knie gezwungen. Der dritte Schattenkrieger versuchte zu fliehen und stolperte über seinen langen schwarzen Mantel. Als er sich wieder aufrappelte, war seine Fratze verrutscht. Hellbraunes Haar quoll unter der Kapuze hervor und ein Teil einer geröteten Wange wurde sichtbar. Das Bild wackelte. Hastig rückte der Krieger die Maske mit der linken Hand wieder zurecht und versuchte mit der rechten Levins Stockhiebe zu parieren.
    Verstohlen betrachtete Lis ihren Zwillingsbruder und ihre Cousins, die im kleinen Wohnzimmer vor dem Fernseher saßen.
    »Die Stelle ist blöd, da ist Frank gestolpert, aber wenn ihr hinschaut, seht ihr hinten im Bild die Heilerin Anea«, sagte Levin, stand auf und deutete auf ein großes Mädchen in einem hellgrauen Umhang und mit langen Haaren, das neben einer Birke stand. Dann verwackelte das Bild endgültig. Teile eines davonhuschenden Waldbodens kamen ins Bild, bis das Band plötzlich abrupt stoppte. Der Videorecorder summte, als Levin den Film zurückspulte. »Eigentlich heißt sie Silke und kommt aus Rosenheim. Mit ihr bilde ich seit dem letzten Con eine Zaubergemeinschaft.«
    Bojan und Sascha runzelten die Stirnen. Aus ihren Gesichtern sprach keine Neugier, allenfalls milde Verwunderung über Levin und seine Rollenspiel-Welt. Jedes Mal, wenn Lis und Levin hier bei ihren slowenischen Verwandten zu Besuch waren, kam es Lis so vor, als würden sie in eine völlig andere Welt eintreten, in der ganz andere Dinge üblich und wichtig waren. Sie bemerkte, wie Bojan spöttisch lächelte, als er die Fernbedienung nahm und wieder auf das Fernsehprogramm umschaltete. Ein amerikanischer Film mit slowenischen Untertiteln erschien. »Toll«, sagte Bojan. »Und zu diesen ›Live-Rollenspielen‹ fährst du dann jeden Monat und lässt dich in den Matsch schubsen.«
    Lis biss sich auf die Lippe. Sie mochte Bojan nicht. Seit er achtzehn geworden war, gab er sich zynisch und abgeklärt, rauchte betont lässig und kam sich überhaupt sehr erwachsen vor. Dabei war er nur zwei Jahre älter als sie und Levin, aber wenn man nach seinem Verhalten ging, waren sie für ihn nur Kinder, während er den coolen Erwachsenen mimte. In diesem Frühjahr hatte er seine Lehre bei einem Automechaniker begonnen und eine Gruppe älterer Freunde gefunden, mit denen er Motorrad fuhr und nachts durch die Straßen zog. Ihren jüngeren Cousin Sascha mochte Lis seit jeher viel lieber. Er war gerade erst zehn geworden und hatte etwas Verträumtes und Ernsthaftes, das Lis gefiel. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er jemals so rüpelhaft und großmäulig werden würde wie sein Bruder.
    Levin schien nicht zu bemerken, dass Bojan sich über ihn lustig machte. »Das ist nicht nur In-den-Matsch-Schubsen«, erklärte er geduldig. »Jeder von uns hat einen richtigen Rollenspiel-Charakter, den er erfunden und ausgearbeitet hat. Du denkst dir einen Namen und eine Lebensgeschichte aus und kümmerst dich um ein passendes Kostüm. Wenn wir uns in der Con-Gruppe treffen, ist es wie ein Film – es gibt Spielleiter, die eine Art Drehbuch schreiben und alles organisieren. Wenn wir zum Beispiel Kulissen brauchen, wird der Aufbau in den Spielverlauf einbezogen. Wer keinen festen Charakter hat, den er immer wieder
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