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Die Rückkehr der Zehnten

Titel: Die Rückkehr der Zehnten
Autoren: Nina Blazon
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gewirkt wie an der äußeren Hülle. Gut erkennbar waren die feinen Ritzungen, die ein ernstes, fein geschnittenes Mädchengesicht darstellten, das von kurzem glattem Haar umrahmt war. Unter dem Porträt waren einige Zeichen ins Silber geprägt, die Lis nicht lesen konnte. Entfernt erinnerten sie sie an die kyrillischen Buchstaben, die sie von den serbischen Zeitungen kannte, die am Marktplatz verkauft wurden, aber diese Zeichen hier waren sehr viel filigraner und verschnörkelter.
    »Das ist garantiert antik«, stellte Levin fest.
    Lis nickte und klappte das Medaillon so behutsam wieder zu, als würde sie ein Vogeljunges ins Nest zurücklegen. »Wir müssen es abgeben«, flüsterte sie und schluckte. Der Gedanke an den Verlust dieses Schatzes ließ ein ängstliches Flattern in ihrem Bauch aufschrecken, obwohl sie die Kette immer noch in ihrer Hand spürte.
    »Spinnst du? Dann verschwindet es sofort in einem Museumsarchiv.«
    »Wir können es doch nicht einfach behalten, Levin. Das ist ein Kunstschatz, der hier nach Piran gehört.«
    »Ich habe ja nicht gesagt, dass wir es mit nach München nehmen sollen. Wir können es ja abgeben, aber erst wenn wir herausgefunden haben, was die Inschrift bedeutet.«
    Mit gemischten Gefühlen sah Lis auf das Medaillon, das geschlossen wieder unscheinbar und schwarz aussah. Ihr war ein wenig schwindlig, es fühlte sich an, als würde das wasserkalte Silber von alleine wärmer als ihre Hand werden, die vom Wind klamm und kühl war.
    »Wir bringen es zum Museum, Fräulein Oberkorrekt, keine Sorge«, sagte Levin missmutig und schnappte ihr den Anhänger aus der Hand. Bevor sie protestieren konnte, war er bereits aufgesprungen, hatte die Tasche genommen und ging mit großen Schritten in Richtung Leuchtturm. Die Sonne kam hinter den Wolken hervor und tauchte den Strand in gleißendes Licht.
     
    »Kein Wunder, dass du niesen musst!« Lis stand mit Föhn und Handtuch vor dem Garderobenspiegel im Flur, als ihre Mutter hinter sie trat und ihr das Handtuch aus der Hand nahm. »Warum geht ihr auch schwimmen, wenn es so windig ist.«
    Lis lächelte und betrachtete das schmale Gesicht ihrer Mutter im Spiegel. Das helle Haar war seit neuestem wieder sehr kurz geschnitten und lockig, sie war ungeschminkt und wirkte müde, was sie beinahe mädchenhaft aussehen ließ. Die ernsten grauen Augen hatte Lis von ihr, während Levin mit seiner langen schmalen Nase und dem geschwungenen Mund mehr ihrem Vater glich. Für einen Moment stellte Lis sich ihre Mutter als junges Mädchen vor, wie sie hier in ihrem Elternhaus in der Straße Grajska Ulica lebte. Von Onkel Miran hatte sie unzählige Kindheitsgeschichten gehört, aber die Zeit, als ihre Mutter so alt war wie sie, Lis, jetzt, diese Zeit lag in diffusem Dunkel. Was sie sich zusammenreimte, war mehr als dürftig.
    Zwanzig Jahre war ihre Mutter alt gewesen, als sie bei einer Reise nach Deutschland Lis’ Vater kennen lernte und zu ihm nach München zog. Nur wenige Jahre älter als Lis und Levin heute.
    Ihre Mutter strich ihr eine lange, hellbraune Haarsträhne hinter das Ohr. »Du bist richtig hübsch geworden«, sagte sie. »Man sieht gar nicht, wie hübsch du bist, wenn du dir immer die Haare ins Gesicht kämmst.«
    Lis schwieg, doch als ihre Mutter ihr die Haare aus dem Gesicht strich und sie zu einem Zopf zusammennehmen wollte, schüttelte sie unwillig den Kopf. Der Spiegel gab den Blick auf ihren Hals frei, wo auf der linken Seite ein Feuermal prangte. Dunkelrot ergoss es sich von ihrem Hals bis fast zum Kieferknochen hinauf.
    »Lass das!«, sagte sie grob und kämmte sich die Haare so hin, dass sie ihr wieder über die Schultern fielen und das Feuermal verdeckten. Das Mal war der einzige Grund, warum sie ihre Haare seit jeher lang trug, obwohl die Mädchen in ihrer Klasse gerade allesamt fedrig geschnittene Kurzhaar-Frisuren zur Schau trugen. Außerdem besaß sie eine ansehnliche Sammlung von Rollkragenpullovern und Tüchern.
    »Aber Lizika«, sagte ihre Mutter. »Das Feuermal ist gar nicht so schlimm, wie du denkst. Es erscheint dir selbst viel größer und dunkler, als es in Wirklichkeit ist.«
    »Ach ja? Du kannst leicht reden, du wirst ja nicht in der Klasse blöd angemacht deswegen.«
    Mutters Lächeln verschwand. »Du hast ja Recht«, sagte sie leise in ihrer nachgiebigen Art, die Lis nicht mochte. »Aber du weißt, was wir vereinbart haben. In ein, zwei Jahren lassen wir es mit Laser entfernen. Papa hat sich erkundigt.«
    Lis sah ihrer Mutter
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