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Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Titel: Die Frau, die zu viel fühlte - Roman
Autoren: Charles Chadwick
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I
    An einem feuchten und einsamen Abend vor etwa fünf Jahren beschloss ich ganz spontan, etwas über meine jüngere Schwester Julie zu schreiben. Ich weiß nicht mehr, warum. Natürlich hatte ich sie immer im Hinterkopf gehabt – als eine Art permanenter Abwesenheit, die hin und wieder wie ein Geist in Erscheinung trat, um mich daran zu erinnern, dass sie noch immer irgendwo existierte. Vielleicht hatte ich eine heisere, schnell sprechende Stimme gehört, die klang wie die ihre. Oder ich hatte auf der Straße flüchtig jemanden gesehen und einen Augenblick lang gedacht, es sei sie. Diesmal aber war es, als würde sie in einem dunklen Winkel meines Zimmers lauern und mir zu verstehen geben, dass sie so schnell nicht wieder weggehen würde. In der Vergangenheit hatte ich sie immer wieder zügig aus meinem Gedächtnis verbannt, mit der Ausrede, dass ich Wichtigeres hätte, worüber ich nachdenken müsse. »Na mach schon, Johnny«, schien sie zu sagen, »schau doch, ob du zur Abwechslung mal was über mich schreiben kannst.«
    Jetzt fällt es mir wieder ein. Ich ordnete meine Papiere und stieß auf einige Fotos aus unserer Kindheit. Während ich sie mir ansah, nahmen die Erinnerungen Gestalt an und ließen sich nicht mehr abschütteln. Einige waren Schnappschüsse von der Familie am Meer, und sie brachten mir den Tag zurück, als wir zum letzten Mal mit unserem Vater dort waren. Plötzlich erinnerte ich mich wieder sehr deutlich daran und auch an den Bericht, den ich vor vielen Jahren darüber geschrieben hatte – obwohl ich mir ziemlich sicher bin, dass an diesem Tag keine Fotos gemacht wurden.
    Ich erzählte Hester, meiner anderen Schwester, von diesen Schnappschüssen, und sie meinte mit der für sie so typischen barschen Telefonstimme, dass Julie wohl ein oder zwei Absätze wert sein könnte. Sie wusste damals nicht, dass dieser Bericht überhaupt existierte – mehr darüber später. Als politischer Kolumnist bewege ich mich in einer Welt des »öffentlichen Lebens« und bin ziemlich damit beschäftigt, mit Menschen und Ereignissen auf Tuchfühlung zu bleiben und zu allem meinen Sermon abzugeben, um meinen Ruf zu wahren, ganz zu schweigen vom vielen Lesen als Vorbereitung für meine eigenen Bücher. Und dann ist da noch diese endlose Reihe von Lunches und Dinners und Partys, die ich besuchen muss, um nur ja nichts zu verpassen. »Um meinen Ruf zu wahren«: Ich glaube, das ist die eigentliche, selbstsüchtige Wahrheit. Falls man mich nach der Zielsetzung meines Lebens fragte, dann würde ich wahrscheinlich irgendetwas Aufgeblasenes über die Suche nach der Wahrheit antworten, dass ich die Mächtigen zur Rechenschaft ziehe und die Betrüger und Ihresgleichen bloßstelle. Kurz gesagt, ohne Frau und Familie habe ich ein kaum nennenswertes Privatleben, und ich glaube auch nicht, dass es mir je abgegangen ist.
    Ein- oder zweimal waren Julies Erscheinungen weniger geisterhaft, wenn auch nicht weniger flüchtig. Eines regnerischen Abends vor etwa zehn Jahren schaute ich hinunter auf die Straße vor meiner Wohnung und war mir sicher, dass sie es war, die ihren Regenschirm nach hinten kippte und zu mir hochsah. Ich öffnete sogar das Fenster, um sie zu rufen, aber da war sie bereits wieder verschwunden. Und sofort nach diesem flüchtigen Blick auf das feucht glänzendende, nach oben geneigte Gesicht redete ich mir ein, dass es irgendjemand hätte sein können, und wahrscheinlich hatte ich auch irgendeinen Abgabetermin einzuhalten. Bei einer anderen Gelegenheit spazierte ich durch den St. James Park und meinte, sie in einiger Entfernung mich beobachten zu sehen. Es war Winter, und sie trug einen roten Schal, eine grüne Kappe und einen schweren, schwarzen Mantel. Ich blieb stehen und starrte einen Augenblick lang zurück, hob, glaube ich, sogar die Hand und rief ihren Namen. Aber sie eilte davon. Eine dritte Gelegenheit ergab sich in der Oper, als ich sie in der Pause hoch oben im Rang zu sehen meinte. Das Licht wurde bereits schwächer, und diesmal dachte ich, sie würde mir winken, und ich winkte zurück. Aber die Frau neben mir winkte ebenfalls jemandem dicht neben ihr im Rang. Wieder war der Augenblick entschwunden. Manchmal glaubte ich, wie gesagt, ihre Stimme gehört oder sie in einer Menge gesehen zu haben, erkannte aber sehr schnell, dass es nur flüchtige Ähnlichkeiten waren. Diese Gelegenheiten, und es gab noch ein oder zwei andere, vergaß ich wieder, weil mein Kopf mit Wichtigerem beschäftigt war – wie ich
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