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Die Rückkehr der Zehnten

Titel: Die Rückkehr der Zehnten
Autoren: Nina Blazon
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verkörpert, kann sich von den Spielleitern auch als Statist einsetzen lassen. Als Wächter zum Beispiel oder als Schattenfresser. Meistens spielen wir das ganze Wochenende durch und zelten wie im Mittelalter. Es gibt die Guten, die Bösen, wir führen Kriege und feiern Feste. Natürlich kann ein Charakter bei so einem Spiel auch sterben, dann muss man einen neuen aufbauen.«
    »Und dein Charakter ist ein Priester?«, fragte Sascha.
    »Ja, erzähl uns mal von deinem tollen Charakter«, sagte Bojan und lehnte sich zurück. Lis wusste, dass er das nur sagte, um Levin eins auswischen zu können. Ein spöttisches Grinsen zuckte bereits um seine Mundwinkel.
    Levin nickte ernsthaft, stellte sich sehr aufrecht hin und schwenkte einen imaginären Mantel in einer angedeuteten Verbeugung. Seine Stimme bekam einen gespielt würdevollen Unterton. Wie so oft in letzter Zeit musste Lis gegen das Gefühl ankämpfen, dass sie sich für ihren Zwillingsbruder beinahe schämte. Am liebsten hätte sie ihn in solchen Momenten angefahren, endlich damit aufzuhören, Leuten wie Bojan ins offene Messer zu laufen.
    »Ich bin Karjan, der Hohepriester des Gottes Swantewit des Viergesichtigen«, sprach Levin. »Mein Orakel entscheidet über Sieg oder Niederlage.«
    »Ein Viergesichtiger!«, spottete Bojan. »Was Blöderes fällt dir wohl nicht ein.«
    »Den Viergesichtigen gab es wirklich!«, zischte Lis. Das Blut pochte in ihren Wangen, wieder einmal stellte sie fest, dass sie ihren Bruder unwillkürlich verteidigte.
    »Wirklich?« Saschas Augen waren groß geworden.
    Levin hat es also doch wieder geschafft, dachte Lis. So lächerlich diese Masche ist, es gelingt ihm immer wieder, die Leute zu faszinieren.
    »Es gab einen slawischen Volksstamm bei der Insel Rügen an der Ostsee, der betete diesen Gott an«, sagte Levin zu Sascha. »Alle Bewohner zahlten eine Art Steuer an den Gott Swantewit. Der Hohepriester verwaltete diesen Schatz und rief vor jedem Kampf Swantewit um seinen Schicksalsspruch an. Dafür hatte er ein magisches weißes Pferd, das er über eine Lanze führte, die auf dem Boden lag.«
    »Aber das kann ein Klotz wie du natürlich nicht wissen«, ergänzte Lis in Bojans Richtung. Sie hielt zwar nichts von Levins Geschichten, aber diese Gelegenheit, Bojan eins auf den Deckel zu geben, wollte sie sich nicht entgehen lassen.
    Bojan lachte ungerührt, schnappte sich seine Zigarettenpackung und stand auf. »Na klar, Kleine. Jetzt fängst du auch noch an zu spinnen, was?«, sagte er und ging hinaus.
    Levin zuckte die Schultern und packte sein Video ein. Lis sah ihm an, dass er trotz seiner zur Schau gestellten Überlegenheit wütend war.
    »Was ist mit dem slawischen Volksstamm passiert?«, fragte Sascha.
    »Im zwölften Jahrhundert haben dänische Truppen die Stadt zerstört und die Bewohner zwangsgetauft. Christianisierung, Germanisierung, Ende von Swantewit, Ende der Geschichte«, sagte Levin im Gehen und knallte die Wohnzimmertür hinter sich zu.
    Lis wusste, dass er sich in das winzige Dachzimmer zurückziehen würde, das Onkel Miran normalerweise an Touristen vermietete, die nach Piran kamen, um durch die Altstadtgässchen zu spazieren und den Hauch der Vergangenheit zu atmen. In diesem Jahr erschien Lis das Zimmerchen besonders eng. Levin schien es nicht zu stören, solange er seinen Computer mit Netzanschluss hatte, um mit seinen Con-Freunden mailen zu können.
    »Warum ist er denn so sauer?«, fragte Sascha. »Seit er hier ist, redet er nur von seinen Rollenspielen und ist sofort beleidigt.«
    »Na ja, er versäumt sein wichtigstes Con-Wochenende. Er hatte schon alles dafür vorbereitet.«
    »Musstet ihr mit eurer Mutter herfahren, weil eure Eltern sich scheiden lassen?«
    Lis zuckte zusammen. »Wie kommst du denn darauf? Hat dir Bojan so einen Quatsch erzählt?«
    »Nein, Mama hat es gesagt: Vlasta kommt mit den Kindern alleine her. Wahrscheinlich lassen sich Peter und sie jetzt doch scheiden.«
    »Sascha, das ist Unsinn!« Lis’ Stimme klang lauter und schärfer, als sie beabsichtigt hatte.
    »Papa muss arbeiten und wir sind eben mit Mama zu euch gefahren. Das ist schließlich nicht das erste Mal, dass wir ohne Papa herkommen, oder?«
    »Tante Vlasta hat gestern geweint«, sagte Sascha.
    Lis gab es einen Stich. Sie räusperte, sich um zu verbergen, dass ihr ein Knoten im Hals saß, und zwang sich ganz sachlich fortzufahren. »Vielleicht haben sie sich gestritten. Als ob deine Eltern sich nie streiten!«
    Sascha schwieg und
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