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Die Rückkehr der Zehnten

Titel: Die Rückkehr der Zehnten
Autoren: Nina Blazon
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des Ersten Mai, auf dem Steinstatuen in römischen Gewändern ihre vom Alter zerstörten Gesichter den Häuserfassaden zuwandten und die alte Zisterne bewachten. Wie immer, wenn Lis in die Stadt kam, schaute sie sich nach dem hohen Steinsockel um, auf dem in Höhe der ersten Stockwerke ein kleiner Steinjunge thronte. Locker auf das linke Bein gestützt stand er da und sah auf seine großen Schwestern, die Statuen, herunter. Auf seiner linken Schulter trug er einen Delfin mit weit aufgerissenem Maul, der mindestens ebenso groß war wie er. Lis lächelte unwillkürlich und war zufrieden. Normalerweise mochte sie alte Häuser nicht besonders. Durch Venedig zu spazieren war ihr unheimlich vorgekommen, da alles Vergangene ein seltsames Unbehagen in ihr wachrief. Bei diesem Platz und dem Steinkind war das zum Glück anders. Erst wenn sie den Delfinjungen gesehen hatte, fühlte sie, dass sie hier angekommen war.
    Bald darauf gelangten sie durch einige Torbögen und Seitengässchen zum Meer an den Teil des Strandes, der als »Punta« bezeichnet wurde. Touristen in Bermuda-Shorts strömten an ihnen vorbei. An der Punta saßen die Leute vor ihren Eiskaffees und wärmten sich wie Eidechsen in der Frühsommersonne.
    Lis blinzelte in der gleißenden Helligkeit und sog den vertrauten Geruch nach altem, meerdurchtränktem Stein und gebratenem Fisch ein, der ihr aus den Restaurants entgegenwehte. Die Strandpromenade war von einem Wall kantiger weißer Felsen gesäumt, die die Wellen davon abhalten sollten, die Stadt zu überschwemmen. Dennoch stand im Winter oft das Meerwasser in den Kellern, der Putz war ausgebleicht und die venezianisch anmutenden, schmalen Häuschen, die wie eine pastellbunte Schmuckgirlande die Landzunge zierten, trotzten den salzigen Fausthieben des Meeres. Hoch über dem Städtchen thronte der Campanile der St.-Georgs-Kirche. Auf der Kirchturmspitze stand die Statue eines Engels, die bei einem Jahrhundertgewitter vor einigen Jahrzehnten vom Blitz getroffen worden war und die seither nur noch einen Arm hatte.
    Jedes Mal, wenn Lis durch das Städtchen ging, erschien es ihr, als sei die Zeit stehen geblieben. Die alten Marktfrauen sprachen italienisch und slowenisch, und auf leisen Sohlen schlich der Wind der Vergangenheit durch die Gassen. Von Jahr zu Jahr waren die Fassaden etwas blasser, die Marktfrauen etwas älter, die Touristen kamen in immer größeren Scharen. Man hörte immer mehr verschiedene Sprachen in den Straßen. Handys klingelten mit Dutzenden von Tönen und Melodien und konkurrierten abends mit den Schwalbenschreien, die sich in den schmalen Gassen brachen. Dennoch schien sich am Kern der Stadt nichts zu verändern. Es war, als würden hier andere Gesetze der Zeit gelten.
    Lis seufzte und sah sich nach ihrem Bruder um, der stehen geblieben war, um in seiner Badetasche zu kramen. Was er dachte, konnte Lis nicht erraten, er hatte sich eine schwarze Matrix-Sonnenbrille auf die Nase gesetzt und holte nun schweigend zu Lis auf. Zwei langbeinige, italienische Mädchen verlangsamten unauffällig ihre Schritte und sahen ihn so an, wie alle Mädchen Levin anschauten. An diesen Blick war Lis gewöhnt. Sie wusste sehr gut, welche Wirkung ihr großer, durchtrainierter Bruder auf Mädchen hatte. Und wenn sie versuchte, ihn mit den Augen dieser Mädchen zu sehen, konnte sie es sogar nachvollziehen. Sein Gesicht war markant, er hatte schön geschwungene Lippen und einen aufrechten Gang, der die Menschen denken ließ, einen sehr erwachsenen jungen Mann vor sich zu haben. Auf fremde Leute wirkte Levin nicht wie sechzehn, sondern mindestens wie zwanzig.
    Lis hatte nur entschieden etwas gegen den zweiten Blick, der unvermeidlich an ihr hängen blieb. Levin und sie waren Zwillinge, dennoch sahen sie sich ungefähr so ähnlich wie eine Rose einem Kohlkopf. Und wenn die Mädchen sie musterten, fühlte sich Lis mit ihren hellbraunen Haaren und ihrem Durchschnittsgesicht neben ihrem großen blonden Bruder ganz klar wie der unscheinbare Kohlkopf. Beim Blick der Mädchen glaubte sie auch deren Gedanken zu hören: Ist das etwa seine Freundin?
    Langsam umrundeten sie die Halbinsel, auf der Piran lag, gingen am Leuchtturm mit der maurischen Zackenkrone vorbei und kamen schließlich am Fuße des Kirchbergs an. Über ihnen ragte die Befestigungsmauer des Kirchbergs mit ihren steinernen Pfeilern in den Himmel. Vor sich hatten sie einen schmalen Streifen felsigen Strandes. Links erstreckte sich das Meer. So klar war das Wetter,
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