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Die Rückkehr der Zehnten

Titel: Die Rückkehr der Zehnten
Autoren: Nina Blazon
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hinterher.
     
    »Lis?« Ihre Mutter holte sie ein, als sie schon die Türklinke in der Hand hielt.
    »Ja?«
    Ihre Mutter biss sich auf die Lippe und sah sie unsicher an. »Lis, was ich gestern sagte, wegen der Scheidung… Ich…«
    Lis schüttelte den Kopf. »Mir brauchst du nichts zu erklären, Mama. Du weißt ja selbst noch nicht, was du machen wirst, oder? Ich möchte dir nur eines dazu sagen.« Sie beugte sich vor. »Ich glaube, du solltest aufhören, immer wieder wegzulaufen und dich hierher zu flüchten. Du lebst nicht mehr hier und deine Kindheit kommt nicht mehr zurück. Entscheide dich endlich mal. Nicht wegen Levin und mir, sondern wegen dir – und Papa.«
    Ihre Mutter hatte die Brauen zusammengezogen und bemühte sich sichtlich um Haltung – ein Kampf, den sie wie immer schnell verlor. Im nächsten Augenblick schlug sie die Hand vor den Mund. Tränen rannen ihr über das Gesicht. »Ich weiß«, schluchzte sie plötzlich. »Ich will ja auch und ich sage eurem Vater immer… aber er…«
    »Ja, ist gut, Mama«, unterbrach Lis sie ernst. »Schaut, dass ihr zwei euch entscheidet. Und ich gehe jetzt.«
    Ihre Mutter sah sie irritiert an und vergaß für einen Moment ihr Elend.
    Lis lächelte und nahm ihre Mutter in die Arme. Sie spürte, wie die zierliche Frau vor Überraschung zusammenzuckte. »Alles in Ordnung, Mama«, sagte sie. »Aber ich gehe jetzt in die Stadt. Und du regelst das mit Papa selbst, ja?« Sie machte einen Schritt zur Tür.
    Die Augen ihrer Mutter verengten sich. Sie zwinkerte, als hätte ihr ihre Wahrnehmung einen Streich gespielt, dann wurde sie mit einem Mal blass. Sie wich einen Schritt zurück, wo sie gegen den Schirmständer stieß, der mit einem Scheppern umfiel.
    »Vlasta?«, kam Tante Vidas besorgte Stimme aus der Küche.
    Lis tastete nach ihrem Halstuch und rückte es wieder zurecht.
    »Lis, dein… dein…!«
    »Ich weiß«, sagte Lis und lachte. »Es ist verbrannt.«
    »Aber…«
    Lis legte den Finger an die Lippen. »Später, Mama«, sagte sie. »Vielleicht erkläre ich es dir später. Es ist alles in Ordnung so – aber jetzt muss ich in die Stadt.«
    Ihre Mutter machte den Mund wieder zu, nahm sich sichtlich zusammen und nickte wie betäubt.
    Schon hatte Lis die Klinke heruntergedrückt und rannte die Treppe zur Haustür hinunter. Mit einem Sprung war sie auf der Straße und lief los. Lachend und keuchend kam sie erst zum Stehen, als sie fast schon auf dem Tartiniplatz stand. Vor ihr lag der kleine Hafen und rechts davon das Museum. Ein Schauer fuhr ihr über den Rücken. Jetzt sah sie das Gebäude als das, was es war: ein Tor zur Unterwelt oder ein Tor zu jeder anderen Welt, vielleicht sogar in die Vergangenheit. Wie ein mächtiges Maul mit Säulenzähnen kauerte das Museum am Wasser. Der Atem der Jahrhunderte floss in gleichmäßigem Rhythmus durch die Stockwerke. Schlagartig wurde ihr bewusst, dass sie die Stadt zum ersten Mal mit Kajetans Augen sah. Bald würde sie zu ihm gehen – und vielleicht von ihm erfahren, was mit Tona, Mokosch und der Desetnica geschehen war, wann sie gelebt hatten und ob es sie überhaupt je gegeben hatte. Aber nicht jetzt, nicht heute. Erst musste sie etwas viel Kostbareres finden.
    »Überleg mal«, sagte sie auf Deutsch zu sich und achtete nicht auf die erstaunten Blicke von zwei Spaziergängern, die ihrem Morgenkaffee am Tartiniplatz zustrebten. »Wo war er, als er die Grenze nach Antjana überschritt? Levin und ich waren am Leuchtturm.«
    Ein ängstliches Gefühl der Hoffnung begann in ihrem Zwerchfell zu pochen. Energisch wandte sie sich nach links und ging über den sonnigen Platz in Richtung Kirche. Bevor sie das Gässchen betrat, das sich zwischen den Häusern bis zur Kirche steil bergauf wand und im Bogen auch zum Strand abzweigte, blieb sie vor dem roten, venezianischen Palazzo stehen. Einer Ahnung folgend schaute sie nach oben, dorthin, wo die italienische Inschrift prangte. Im mittleren der spitz zulaufenden Fenster sah sie eine junge Frau stehen, die aufmerksam die Leute auf dem Tartiniplatz beobachtete. Transparent schien sie, beinahe ein Schemen, aber Lis konnte deutlich die Gesichtszüge und die lebhaften Augen erkennen. Das lange dunkle Haar war hochgesteckt. Eine Strähne hatte sich aus der aufwendigen Frisur gelöst und fiel auf das Jahrhunderte alte hellgrüne Seidenkleid mit den gerefften Spitzen. Lis wartete, bis der Blick der Frau auch bei ihr angelangt war, dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und winkte der Frau
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