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Die Rückkehr der Zehnten

Titel: Die Rückkehr der Zehnten
Autoren: Nina Blazon
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schaute im Fernsehen zwei Autos zu, die in eine gläserne Ladenfront krachten und in einem Feuerball explodierten.
    Lis schluckte und schmiegte sich noch enger in den altvertrauten braunen Sessel mit dem kratzigen Überzug. Als Kind hatte sie es geliebt, ihre Verwandten zu besuchen und hier im Sessel zu sitzen. Er war immer dem Fenster zugewandt, das zum Meer hin lag. Normalerweise saß Sascha darin, wenn er seine Kinderbücher las, oder Tante Vida mit der Brille auf der Nase und einem Ordner auf den Knien, wenn sie die Gewinne und Verluste durchrechnete, die das Geschäft mit den Touristen ihnen einbrachte. In diesem Sessel hätte Lis tagelang sitzen und nur auf den blauen Wasserspiegel der Bucht schauen können. An klaren Tagen sah man gegenüber das italienische Festland, auf dem nachts die Lichtpunkte der Stadt Grado leuchteten, und an ganz klaren Tagen erkannte man weit entfernt die gefältelte, strahlend weiße Alpenkette, die wie eine blitzsaubere, gestärkte Serviette auf dem Land lag. Lis erinnerte sich an pastellfarbene Sommertage in der Küstenstadt, an windige Wintertage, wenn das Meer dunkelgrau und aufgepeitscht war und die Burja, der Fallwind aus dem Osten, wehte, während sie im Warmen saßen.
    Jetzt begann draußen gerade der Sommer, die Luft war rein, das Meer noch etwas kalt, alles roch nach warmem Stein und frischer Salzluft. Die Farben waren klar und stechend und noch nicht in die Diesigkeit des Spätsommers übergegangen.
    Lis hätte sich auf zwei schöne Urlaubswochen freuen sollen, doch diesmal war ihr Herz schwer. Sie lassen sich nicht scheiden, beruhigte sie sich. Und doch – wenn sie ihren Vater vor sich sah, der Bücher und Musik für Zeitverschwendung hielt und dessen Ruhe rasch in einen cholerischen Anfall umschlagen konnte, und neben ihm ihre temperamentvolle Mutter, die gern lachte und schnell weinte, dann erkannte sie glasklar, warum die beiden immer wieder stritten und einander verletzten. Was solls, dachte Lis schnell, bevor diese Gedanken noch klarere Formen annehmen konnten. Sie verstehen sich nicht immer gut, aber sie werden sich nicht scheiden lassen, oder doch?
    Ihre Mutter war erschreckend blass gewesen, als sie ihr und Levin sagte, dass sie für zwei Wochen zu Onkel Miran nach Slowenien fahren würden. Ihre zusammengepressten Lippen hatten gezeigt, dass sie keinen Widerspruch dulden würde. »In vier Tagen ist mein Con!«, hatte Levin aufbegehrt. »Ich habe schon die Fahrkarte gekauft und bin fest eingeplant!« Zum ersten Mal hatte Lis erlebt, wie ihre Mutter ihren Bruder anschrie, sie habe diesen ganzen Con-Kram, diese Traumtänzerei, endgültig satt. Levin hatte während der ganzen Fahrt über die Alpen kaum ein Wort gesprochen.
    »Lizika?«
    Lis schrak zusammen und sah zur Tür. Immer noch konnte sie sich nicht daran gewöhnen, bei ihrem slowenischen Kosenamen gerufen zu werden. Tante Vida lächelte ihr zu. »Wir haben Kaffee gemacht. Willst du eine Tasse?«
    Lis schüttelte den Kopf und stand auf. »Nein danke, ich muss noch meine Sachen auspacken. Und dann wollen Levin und ich gleich noch an den Strand.«
    »Wie du willst.« Tante Vida lächelte ihr liebevoll zu und ging wieder in die Küche, wo sie, wie Lis wusste, schon den ganzen Vormittag über mit ihrer Mutter saß. Als sie an der Küchentür vorbeiging, erhaschte sie einen Blick auf ihre Mutter, die gedankenverloren aus dem Küchenfenster auf die Gässchen hinunterschaute. Sie umklammerte ihre Kaffeetasse so fest, dass die Knöchel ihrer Finger weiß hervortraten.
     
    »Ihr wollt schwimmen gehen? Das Meer ist noch ziemlich kalt!« Missbilligend musterte Onkel Miran die Taucherbrille und die Flossen, die Levin in der Hand trug.
    »Die Leute baden aber schon hinter der Kirche«, antwortete Levin.
    »Trotzdem, die Burja weht sehr kräftig. Und in dieser Jahreszeit muss man aufpassen, weil es noch starke Strömungen gibt. Kennst du die Kalans, die im roten Haus am Ende der Straße wohnen? Ihr Sohn ist vor zwei Jahren zu weit rausgeschwommen und ertrunken.« Onkel Mirans Gesicht wurde etwas weicher. »Also schwimmt nicht zu weit vom Strand weg, ja?«
    »Klar«, sagte Levin leichthin und ging voraus ohne sich umzusehen.
    »Versprochen«, sagte Lis und rückte ihr dunkelblaues Halstuch zurecht, das sie am liebsten trug. Ihr Onkel lächelte kurz und strich ihr flüchtig übers Haar. Dann beeilte sie sich, Levin zu folgen, der mit schnellen Schritten durch die schmalen Altstadtgässchen ging. Sie überquerten den Platz
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