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Die rätselhaften Worte

Die rätselhaften Worte

Titel: Die rätselhaften Worte
Autoren: Reginald Hill
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war es echt?
    SERGIUS :
Wie soll ich das wissen? Ich wußte ja nicht einmal, ob der Dialog, den ich mit ihr zu haben glaubte, echt oder nur eingebildet war. Zwei lebendige Menschen können sich begegnen, miteinander reden und es überprüfen, nicht? Aber ich hier unten und sie da oben, wie sollten wir beide das feststellen? Es sei denn natürlich durch ein Zeichen.
    SAM :
Ein Zeichen? O Gott, erspare uns Zeichen!
    STUFFER :
Wenn ich eins gelernt habe in der Politik, dann das: Wer nach Zeichen sucht, der findet sie, und es gibt keins, dem man vertrauen kann.
    SERGIUS :
Da könnten Sie recht haben, Stadtrat. Nachdem sie einmal danach Ausschau gehalten hatte, stellten sie sich rasch und deutlich ein. Der Gerechtigkeit halber müssen Sie aber ihren psychischen Zustand berücksichtigen. Es waren nicht nur Schuldgefühle wegen meines Todes, die sie durcheinandergebracht haben. Ihr ganzes Leben ist aus der Bahn geraten. Vor ihrem Unfall hat sie nie etwas anderes im Kopf gehabt als ihre Bühnenkarriere, aber nachdem sie sich erholt hatte, gab sie das auf. Den Leuten – und im Grunde sich selbst – redete sie ein, ihr seien die Künstlichkeit und das verlogene Getue auf der Bühne zuwider. Der wahre Grund war viel banaler: Sie konnte einfach keinen Text mehr behalten!
    DICK :
Aber sie hatte doch immer so ein ausgezeichnetes Gedächtnis für Zitate.
    SERGIUS :
Jenseits der Bühne war alles wunderbar, da hatte sie ein nahezu perfektes Gedächtnis. Aber kaum stand sie auf den Brettern, war alles wie weggeblasen.
    BROSE :
Wie furchtbar! Ich erinnere mich noch gut, wie ich einmal einen Blackout hatte, als Mirabell an der Seite von Dame Judi im Garrick …
    PERCY :
Oh, Brose, halt doch die Klappe, und laß den Mann zu Ende erzählen. Je eher wir über diesen schrecklichen Fluß kommen, desto eher haben wir diese unangenehme Situation hinter uns.
    SERGIUS :
Danke sehr, Mr. Follows. Sie müssen wissen, Mr. Bird, sie vergaß nicht nur ihren Text, sondern überhaupt alle Wörter. Können Sie sich vorstellen, was eine Welt ohne Wörter ist? Wo nichts eine Bezeichnung hat? Wo Sie keine einzige Empfindung ausdrücken können? Keinen einzigen Gedanken … und eigentlich können Sie ja gar nichts denken! So war das, sobald sie die Bühne betrat. Deshalb wurde sie Bibliothekarin, denn auf diese Weise konnte sie ihr Leben an Orten verbringen, wo die Worte sicher für zukünftige Generationen verwahrt werden. Aber all die Zeit über trieb sie das Verlangen um, daß ich ihr verzeihe. In ihrer Erinnerung hatte ich sie aus dem Fahrersitz des verunglückten Wagens gehoben und aufs Pflaster gebettet, dann einen Zypressenzweig von einem Baum gebrochen, der über eine Kirchhofmauer ragte, ihn ihr auf die Brust gelegt und ihr ein liebes Wort ins Ohr geflüstert, bevor ich meinen Platz hinter dem Steuer einnahm, damit man sie nicht für den Unfall verantwortlich machte.
    DICK :
Da fällt mir was ein …
    SERGIUS :
Genau. Ich nehme an, Sie denken an eine Übersetzung von Ihrem Freund Penn, die er in seinem vergeblichen Bemühen um Ryes Aufmerksamkeit herumliegen ließ. Sie stammt aus dem Gedicht, das so beginnt. »All night long when dreaming I see your face …«
    DICK :
Genau das. Wie ging noch mal die letzte Strophe?
    A word in secret you softly say
    And give me a cypress spray sweetly.
    I wake and find that I’ve lost the spray
    And the word escapes me completely.
[5]
    SERGIUS :
Gut gemerkt. Schade, daß Ryes Gedächtnis nicht auch so gut funktionierte. Sie wurde aus dem Wagen geschleudert, und ich war nicht in der Lage, ihr zu helfen. Ich bin einfach über dem Fahrersitz zusammengesackt und gestorben. Und es war auch nicht die Mauer eines Friedhofs, gegen die wir gefahren sind, sondern eine gewöhnliche Gartenmauer, und auch kein Zypressenbaum, sondern bestenfalls eine scheußliche Leylandii-Hecke. Aber Rye hatte ein so fabelhaft trügerisches Gedächtnis, daß sie es sofort als eines der Zeichen nahm, nach denen sie immer suchte, als sie diese Zeilen von Mr. Penns Übersetzungsbemühungen las. Und es gab noch viele andere. Sie sind da auch nicht unschuldig, Mr. Dee. Sie haben sie auf dieses Spiel aufmerksam gemacht, Paronomania, und lange bevor Sie es ihr erklärt haben, hat sie die Bedeutung des dritten Bänkchens mit dem Namen Johnny herausgefunden. Ihr schien das ein hervorragendes Beispiel dafür, daß allein durch die Kraft der Worte jemand ins Leben zurückgerufen werden kann.
    DICK :
Aber so war das nie mit Johnny … ich
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