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Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie

Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie

Titel: Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie
Autoren: dtv
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der Eingang zum Personaltrakt, durch den man zum Apartment unten gelangte. Ich trat ein.
    Lass es bleiben, es ist zu riskant , redete ich mir ins Gewissen, während ich lautlos wie eine Schlange, einen bloßen Fuß nach dem anderen, die Treppe zu den Privaträumen der Bisters hinunterglitt.
    Meine Zehen fassten den Teppich unter meinen Füßen wie Finger. Im Haus war es so still, dass ich eine Feder hätte zu Boden flattern hören. Angenommen, ich würde Claires Bruder in die Arme laufen? Lungerte er irgendwo herum? Ich wollte nicht über ihn nachdenken.
    Vorsichtig, Oscar. Es ist noch immer Zeit, umzukehren und wieder ins Bett zu schlüpfen! Geh dorthin zurück, wo du in Sicherheit bist! Jetzt gleich! , mahnte mich meine innere Stimme. Aber wieder hörte ich auf kein Wort von dem, was sie zu mir sagte. Die Verlockung, vielleicht Dads »Hallo!« am anderen Ende der Leitung zu hören, war zu groß.
    Ich befand mich im Geschoss mit den Schlafzimmern. Ölgemälde in schweren vergoldeten Rahmen hingen an den Wänden. Einer von diesen orientalischen Seidenteppichen streichelte meine Füße. Zu meiner Rechten war das Elternschlafzimmer. Neben dem Himmelbett lag ein Eisbärenfell mitsamt Kopf, die Zähne des immer noch tadellosen Gebisses weit aufgerissen. Ich schauderte, als ich mir vorstellte, wie grausam der arme Bär geendet hatte – ganz zu schweigen davon, wie sein schönes dickes Fell jeden Morgen und Abend von Mrs Bisters zierlichen Füßenbetreten wurde. Ich schaute auf den Nachttisch. Weit und breit kein Telefon. Wahrscheinlich hatten die Bisters ein Telefonzimmer, genauso wie die Pettishanks und andere reiche Familien.
    Wo mochte das Telefonzimmer der Bisters sein? Ganz unten natürlich. Sogar noch gefährlicher. Langsam und vorsichtig schlich ich die nächste Treppe hinunter.
    Das Wohnzimmer, wenn die Bisters es denn so nannten, war so groß wie das ganze Erdgeschoss unseres Hauses in der Lucifer Street. Es blickte auf einen schneebedeckten Park zwei Häuserblocks weiter hinaus. Wuchtige Ohrensessel, mit seidenen Libellen bestickt, flankierten den Marmorkamin. Er war blitzsauber und mit militärischer Präzision mit kleinen Holzscheiten ausgelegt. Fast wäre ich auf ein cremefarbenes Samtsofa gesprungen, widerstand aber der Versuchung und ging weiter. Auch hier kein Telefon. Auf dem Sofa hatten mindestens fünf Personen Platz. Wenn man die anderen, mit Rindsleder bezogenen Sofas und Lehnsessel dazurechnete, konnte der Raum bequem zwei Dutzend Leute aufnehmen, ohne dass man einen hölzernen Klappstuhl aus der Garage holen musste, wie meinDad es immer tat, wenn wir zu Hause Erntedank feierten.
    Die Bisters haben keine hölzernen Klappstühle. Sie haben keine Garage! , erinnerte ich mich. Eins ihrer überdimensionalen Sofas wog zweifellos unsere ganze Wohnungseinrichtung auf.
    »Kehr um, Oscar!« , drängte mich meine innere Stimme. Nur eine Minute, ich möchte nur hören, wie Dad Hallo sagt. Das ist alles, was ich will , hielt der unvernünftige andere Oscar dagegen.
    Eine zweiflügelige Glastür am Ende des Wohnzimmers führte ins Esszimmer. Ein Dutzend Stühle mit hohen, leiterähnlichen Rückenlehnen und Goldeinlagen in den Fugen standen in exakt gleichen Abständen um einen Mahagonitisch, dessen Oberfläche spiegelglatt poliert war. Darüber hing ein Kronleuchter mit Hunderten Kristalltropfen.
    Glücklicherweise war der Raum dahinter tatsächlich das Telefonzimmer. Es war im spanischen Stil eingerichtet. Weinrote Samtvorhänge fielen in schweren Falten an den Fenstern herab. Der Samt war mit goldenen Libellen bestickt. Ich schaltete die Lampe an. Das Licht leuchtete durch winzige farbige Glasscheiben, keine davon größer als mein Daumennagel.Wieder ein Libellenmuster. Die Bisters mussten eine besondere Vorliebe für Libellen haben. Auf den Telefonapparat selbst blickte eine Elfenbeinstatuette eines griechischen Gottes herunter, der einen von einer Schlange umwundenen Stab hielt. Aus seinen Fersen wuchsen silberne Flügel.
    »Hermes, Oscar!«, klang mir Mrs Olderbys Stimme im Ohr. Mrs Olderby hatte uns in Altertumsgeschichte unterrichtet und dafür gesorgt, dass wir uns die Namen und Eigenschaften jedes Gottes im griechischen, römischen und ägyptischen Himmel merkten.
    Auf einem winzigen Schild vorn am Telefonapparat stand die Nummer der Bisters. Ich nahm den Hörer ab.
    »Vermittlung. Die Nummer, bitte?«, sagte die Telefonistin. Als ich ihre Stimme hörte, fiel mir ein Stein vom Herzen und meine Ängste
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