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Die Räder des Lebens

Die Räder des Lebens

Titel: Die Räder des Lebens
Autoren: Jay Lake
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herumtragen konnte.
    »Es zählt die Stunden«, flüsterte sie mit zitternder Stimme und fahrigen Händen.
    »Ja.« Er deutete auf eine kleine Kappe, die an einem Ende hervorstand. »Siehst du? Ein Aufzugsmechanismus. Ein Schiffschronometer, für den man keinen Aufzugsschlüssel mehr benötigt.«
    Sie berührte das Rändel des Aufzugsmechanismus. Als er nickte, drehte Paolina ihn ganz sanft.
    Das kleine Modell der Welt gab ein klickendes Geräusch von sich, genau wie es der Himmel um Mitternacht tat. Nichts Geringeres als die Schöpfung lag auf ihrer Hand. Die Engländer waren wirklich Zauberer.
    Sehr zu ihrer eigenen Überraschung fing Paolina an zu weinen.
    Praia Nova besaß sieben Bücher. Sie wurden in der großen Halle untergebracht, in einem Wandschrank, der auch die kostbaren Flaschen enthielt, in die Fra Bellico den bagaceira abfüllte, wenn er denn die Zutaten zum Brennen hatte. Auch der Wildblumenwein wurde hier untergebracht, den die Frauen herstellten, wenn Fra Bellico die Zutaten oder die Zeit dazu fehlten oder er einfach keine Lust hatte.
    Es gab eine von Wasser beschädigte halbe englische Bibel: das Alte Testament bis etwa zur Hälfte des Buchs Ezechiel. Das Neue Testament mit seinen Erzählungen über die Römer und die Räderung Christi existierte in Praia Nova nur in Form einer Lederschriftrolle, die aus den handgekritzelten Erinnerungen verschiedener schiffbrüchiger Matrosen bestand, die ihre dem Glauben gegenüber doch recht gleichgültige Haltung seit Generationen in das Dorf mitgebracht hatten. Es war nicht von Bedeutung, was sie von den Propheten hielt oder von der schlechten Kopierarbeit vergangener Zeiten – die Bibel musste nicht erklärt werden. Dazu reichte ein Blick in den Himmel.
    Die anderen Bücher waren eine ganz andere Geschichte. Ihr Liebling war Fiéis e Verdadeiros Segredos , die portugiesische Übersetzung eines Buchs, das von sich behauptete, ursprünglich auf Französisch erschienen zu sein und als Autor einen Comte de Saint-Germain nannte. Es war ein prächtiger Band, der in glattes, sanftes Leder eingeschlagen war – welches sie mit ziemlicher Sicherheit für menschliche Haut hielt. Der Titel war mit Blattgold und roter Farbe auf den Einband geprägt worden, aber beides war schon längst abgeblättert und verblasst. Der Inhalt bestand aus entsetzlichen Holzschnitten, die aufs Deutlichste Szenen verschwenderischer Ausschweifungen vergangener Tage illustrierten. Sie hatte sie sich schon oft genauer angesehen, aber die meisten immer noch nicht verstanden. Auf jeden Fall hielt Paolina das, was Saint-Germain über sich selbst und die Welt berichtete, für wenig glaubwürdig. Der Mann, wer immer er auch gewesen sein mochte, war aber auf jeden Fall ein außergewöhnlicher Geschichtenerzähler. Sie hoffte, eines Tags auf einen Juden zu treffen, um mit ihm einige der Fragen durchzugehen, die die Segredos aufwarfen.
    Sie besaßen außerdem die Archidoxis Magica von Paracelsus. Sie war in Holz gebunden worden und hatte sehr unter Feuchtigkeit und ihrem hohen Alter gelitten. Es konnte Paolina auch niemand mit dem Lateinischen helfen. Es gab keinen zweiten Text, mit dem sie ihn hätte vergleichen können, um sich die Sprache anzueignen. Paolina hatte daher mit dem Buch sehr kämpfen müssen. In den Segredos hatte Saint-Germain behauptet, Paracelsus als Alchemisten und Arzt gekannt zu haben, aber das sagte ihr nur eins – ob er nun ein Betrüger oder ein Genie war, er hatte das Herz der Welt schlagen hören.
    Das hatte sie inspiriert.
    Drei der anderen Bücher waren beliebte Werke, zwei auf Englisch, eins auf Spanisch: Das Geheimnis des Edwin Drood von Charles Dickens, Mathias Sandorf von Jules Verne und Cartas Marruecas von José Cadalso. Sie besaßen außerdem einen Band, der in einem Alphabet geschrieben war, das auf verrückt machende Weise vertraut schien, aber dennoch keinen Sinn ergab. Paolina überraschte es bis heute, dass er nicht als Zunder geendet war. Sie hatte die englischen Texte mehrfach durchgelesen und sich zweimal durch Cadalso gekämpft.
    Sie hatte herausgefunden, wie seltsam die Welt war, jenseits der a Muralha und den von Ziegenkot bedeckten Wegen Praia Novas. Und wie sehr sie es danach verlangte, an einem Ort in der Nördlichen Welt zu leben, einem Ort, wo es Druckerpressen und Bibliotheken und Buchläden gab.
    Selbst Dr. Minors Besuch in Praia Nova hatte nur dazu geführt, ihre Unzufriedenheit anwachsen zu lassen; auch wenn er ihr Englisch um ein Vielfaches
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