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Die Räder des Lebens

Die Räder des Lebens

Titel: Die Räder des Lebens
Autoren: Jay Lake
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verbessert und ihre Kenntnisse der Welt vertieft hatte.
    Nun allerdings besaß sie eine unschätzbare Kostbarkeit. Sie besaß eine Taschenuhr. Ein Schiffschronometer mit Aufzugsmechanismus, um genau zu sein.
    Weder die Bibel noch Saint-Germain machten eine klare Aussage zu Uhren, obwohl beide Texte sich mit dem Uhrwerk an sich befassten – in der Bibel allerdings doch reichlich metaphorisch. Paracelsus war ihr überhaupt keine Hilfe und Cadalso auch nicht. Verne und Dickens hingegen schienen in einer Welt zu leben, in der Taschenuhren zum Alltag gehörten.
    In den folgenden Tagen las sie die beiden Texte erneut sorgfältig durch. Der Zweck der Uhr wäre deutlich genug zu erkennen gewesen, auch wenn Davies ihn nicht erklärt hätte. Paolina interessierte sich vielmehr für ihre Bauweise und wie sie funktionierte. Sie hatte noch nie etwas gesehen, das nur annähernd einer Uhr glich. Es war leicht, Schlussfolgerungen zum Mechanismus zu ziehen, indem man sich Gottes Entwurf für das Universum ansah. Er hatte seinen Plan einfach in den Himmel gezeichnet.
    Was Paolina wollte, war eine verständliche Bauanleitung.
    Der Aufzugsmechanismus lag schwer in der Tasche ihres schlichten Kittels. Sie wusste, dass er existierte, so wie sie wusste, dass ihr Herz schlug. Wenn sie ihn aufzog, tickte er. Sein Ticken war ein Spiegelbild der Welt.
    Im tiefsten Grunde aller Herzen schlägt die Zeit , dachte sie.
    Es war eine dieser Ideen, die sie auf einen Gedanken brachte. Ein kleiner, aufblitzender Funke, der von großer Bedeutung war.
    Gott hatte das Universum als Uhrwerk erschaffen. Die Welt tickte und drehte sich. Vor zwei Jahren war ihr regelmäßiger Lauf ins Stocken gekommen. Es hatte einige Sekunden zu spät Mitternacht geschlagen. Niemand verstand das, und es hätte auch keinen Sinn gehabt, das erklären zu wollen. Aber sie hatte es gewusst.
    Dann war die Welt in Ordnung gebracht worden. Welche Zeit im Herzen der Erde auch schlug, sie war wiederhergestellt worden. Paolina hätte nur zu gern gewusst, wie das geschehen war. Eine Frage, die in allen Büchern gestellt wurde (abgesehen natürlich von der Bibel), war, ob Gott selbst Hand an die Welt legte oder ob er seiner Hände Werk einfach sich selbst überließ.
    Etwas war in Ordnung gebracht worden.
    Und in allen Herzen schlug weiterhin die Zeit. Das Schiffschronometer war ein Modell des Universums, nicht größer als ihre Handfläche, gerade mal zwei Finger breit, und mit seinem Ticken vergingen die Sekunden und Stunden, genau wie es bei der Schöpfung der Fall war.
    Paolina hielt es sich ans Ohr und lauschte aufmerksam, die Worte Dickens’ und Vernes’ und die der Propheten des Alten Testaments im Hinterkopf. Das leichte Ticken des Geräts ließ sie an Ezechiel 24, 6 denken: O der mörderischen Stadt, dem Messing, da der Rost daran klebt und nicht abgehen will! Tue ein Stück nach dem andern heraus; und du darfst nicht darum losen, welches zuerst heraus soll.
    Das war deutlich genug. Gott befahl ihr, die Uhr auseinanderzunehmen.
    Paolinas größtes Problem war, einen sauberen, freien Arbeitsplatz zu finden. Die Zahnräder und Räderwerke in ihrer Taschenuhr waren kleine Spiegelbilder des Messings am Himmel. Sie benötigte einen windgeschützten Raum, der möglichst frei von Staub und Dreck sein sollte, und in dem ihre komplizierte Arbeit auch während ihrer Abwesenheit unbehelligt bliebe.
    Die Innenräume der großen Halle, zwischen den Büchern und Flaschen, wären ideal gewesen. Aber selbst Paolina konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie die fidalgos damit zurechtkommen sollten. Sie würden das dumme Mädchen verprügeln und sie das Moos auf den Treppen unten am Wasser abkratzen lassen, wenn sie auch nur die Frechheit besäße, ihnen das vorzuschlagen.
    Sie schlenderte durch das Dorf und sah sich die Häuser und Lagerräume an, aus denen Praia Nova im Wesentlichen bestand. Diejenigen, die nicht bewohnt wurden, waren baufällig. Paolina wollte sich nicht einmal vorstellen, welche Geduld man aufbringen musste, um eine verlassene Hütte wieder in Schuss zu bringen.
    Als sie auf dem Oporto-Felsvorsprung entlangging, der zweiten Felsplatte oberhalb der Stadt, erkannte sie, dass die Antwort vor ihr lag – die Pilzschuppen. Man hatte sie mit gewachstem Segeltuch abgehangen, und dort war es ruhig. Es würde noch einen guten Monat dauern, bis die nächste Ernte eingebracht werden musste. Sie brauchte nur ein wenig Licht.
    Das Beste war, dass die Frauen der Stadt für
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