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Die Räder des Lebens

Die Räder des Lebens

Titel: Die Räder des Lebens
Autoren: Jay Lake
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bremsen konnte. Das konnte man mit Stoff oder Bändern schaffen, aber bei seinem Gewicht mussten diese sehr weit ausgebreitet werden, damit eine ausreichende Oberfläche entstand und somit das Abbremsen ermöglichte. Im Hinterkopf stellte sie bereits Berechnungen an, wie die Formel für das Verhältnis zwischen der Größe des Stoffs und des zu tragenden Gewichts auszusehen hatte.
    »Ich heiße Paolina Barthes«, sagte sie. »Dieses Paradies der Nördlichen Hemisphäre heißt Praia Nova.«
    Er stand auf und verbeugte sich unbeholfen. »Clarence Davies, vor Kurzem noch Schiffsarzthelfer auf der Bassett , einem Luftschiff Ihrer Kaiserlichen Majestät.« Einen Augenblick später fügte er hinzu: »Vor Kurzem bedeutet in diesem Fall, dass ich vor zwei Jahren über Bord ging und meinen Fußmarsch entlang der Mauer begann.«
    Nun war sie wirklich beeindruckt. »Du hast zwei Jahre lang ohne jede Hilfe überlebt?«
    Er nickte, wirkte aber immer noch hungrig und gejagt. Es konnte für ihn nicht leicht gewesen sein – Praia Nova klammerte sich ans Leben, und hier konnten sich mehrere hundert Menschen zumindest theoretisch absprechen, um sich zu verteidigen und das zu teilen, was sie besaßen.
    »Du scheinst zu wissen, wie man sich da draußen zurechtfindet«, sagte sie.
    »Ich habe mich auf der Bassett zurechtgefunden.« Er senkte den Blick. »Kapitän Smallwood aus dem Weg gehen, auf alles hören, was der Doktor von sich gibt, wenn er mal nicht getrunken hat, auf die Schlaumeier wie Malgus und seinen Jungen achten.«
    »Du bist kein – Schlaumeier?« Sie war enttäuscht. Er war Engländer . Sie waren die genialen Hexenmeister, die sich die Welt untertan gemacht hatten. Dr. Minor hatte ihr das beigebracht, bevor er in die Wildnis geflüchtet war.
    Sie hatte von diesem alten Engländer so viel gelernt.
    »Bin nur ein Junge«, sagte Clarence. »Die Offiziere und Divisionsdeckoffiziere kannten sich mit ihren Sachen aus. Al-Wazir, der war ein Zauberer. Der brachte einen Mann dazu, alles zu tun. Musste man wohl auch können, wenn es um die Reeperdivision geht.«
    Die Macht des Zwangs. Das erklärte eine Menge, was das Britische Empire betraf.
    Der Junge sprach weiter. »Smallwood auch. Die Wasserstoffdivision. Sie spazieren durch Gift, weißt du.«
    »War die Bassett ein prachtvolles Schiff?«
    Zum ersten Mal lächelte Clarence Davies. »Das Schönste von allen. Wie sie an einem Sommertag durch die Wolken schwebte und man auf die Wale und Haie und Krausköppe hinabsehen konnte …« Er senkte erneut den Blick. »Ich will wieder nach England. Zu Fuß ist es aber zu weit.«
    »Du bist bis hierher durch die Luft geflogen, und jetzt kannst du nicht mehr nach Hause.« Etwas in Paolinas Innerem wurde schwach, von dem sie nicht gewusst hatte, dass es existierte. »Sie werden einen Monat lang meckern, die fidalgos , und zu keiner Entscheidung kommen. Also treffe ich jetzt die Entscheidung. Ich lade dich im Namen meiner Mutter ein. Wir werden eine Familie mit einem Jungen für dich finden, und ich sorge dafür, dass ein bisschen mehr Essen zur Verfügung steht.«
    »Danke.« Seine Erleichterung war ihm anzusehen, und in seiner Dankbarkeit kam er offensichtlich zu einer Entscheidung. Er kramte in einer der Innentaschen seines Überwurfs. Clarence hielt ihr einen kleinen Beutel hin. »Hier. Ich brauche das nicht. Habe sie schon seit Monaten nicht mehr aufgezogen. Ein so intelligentes Mädchen wie du könnte damit vielleicht was anfangen.«
    Das Ding war schwer, ein Brocken aus Metall oder Glas. Sie zog es hervor und korrigierte sich. Ein Brocken aus Metall und Glas. Ein rundes Ziffernblatt, auf dem die Stunden wie auf einer Sonnenuhr eingetragen waren, und ein massiver metallener Rand, der noch schwerer in der Hand wog. Auf dem Ziffernblatt befanden sich drei Metallpfeile. Auf seiner Oberfläche befanden sich noch kleinere Ziffernblätter, die ihrer eigenen Eichung folgten, und eine kleine Schnittzeichnung, die etwas unterhalb des Ziffernblatts zeigte.
    Sie betrachtete sie genauer und sah den Himmel.
    Zahnräder.
    Es war Gottes Getriebe, der Mechanismus der Erde und des Himmels, das nun im Kleinformat in ihrer Hand lag. Sie fühlte sich auf einmal sehr leicht, denn sie wusste, dass sie sich an der Schwelle zu einer neuen Form des Bewusstseins befand. Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt; dieses Ding faszinierte sie und bereitete ihr zugleich Angst. Sie hatte nicht gewusst, dass ein Mensch ein Modell der Welt erstellen und es mit sich
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