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Die Räder des Lebens

Die Räder des Lebens

Titel: Die Räder des Lebens
Autoren: Jay Lake
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an.
    Lass es doch Penoyer den fidalgos erklären.
    Paolina ging zu dem Jungen hinüber. »Komm mit«, sagte sie in seiner Sprache.
    Er stand auf und folgte ihr nach draußen, ohne ein einziges Mal zurückzublicken. Das war auch kein großer Verlust, dachte sie. Draußen drehte sie sich zu ihm um. »Tut mir sehr leid.« Sie hielt kurz inne, um ihre nächsten Worte zu überlegen.
    »No faz mal« , antwortete er überraschend. Das macht doch nichts.
    Paolina musste gegen ihren Willen kichern. »Hast du alles verstanden, was sie gesagt haben?«
    »Das meiste.« Wieder auf Englisch.
    »Meine Mutter hat Brot.« Das war das Netteste, was sie im Augenblick für den Jungen tun konnte. Sie nahm ihn an der Hand und zog ihn den Weg entlang, den sie die Königsstraße nannten, zurück zu den Häusern Praia Novas und den ruhigen, hungernden Frauen.
    Um keine Kerze zu verschwenden, aßen sie auf der Hintertreppe der Hütte. Paolinas Mutter fegte und wusch die Steine täglich. Sie hatte ruhig dort gesessen und auf den mondhellen Atlantik hinausgeschaut, als Paolina sie um Brot gebeten hatte. Sie hatte nicht reagiert.
    So war es schon seit Jahren, seitdem das Boot von Paolinas Vater ohne ihn zurückgekehrt war. Marc Penoyer war der Kapitän gewesen. Er und seine beiden Brüder hatten unabhängig voneinander so völlig gleichlautende Versionen der Geschehnisse an Bord erzählt, dass sie sich das zurechtgelegt haben mussten – selbst mit sechs Jahren wusste Paolina schon, dass zwei Menschen sich unmöglich bei einer Sache so einig sein konnten. Menschen verstanden nicht, was sich direkt vor ihrer Nase befand. Sie sahen nur das, was ihnen am Herzen lag.
    Danach hatte ihre Mutter tagsüber gearbeitet und die Nächte mit Träumen verbracht. Manchmal sprach sie, manchmal nicht, aber Paolina hatte in jedem Fall immer ein Kleid. Sie hatte jeden Tag etwas zu essen bekommen.
    Das war wohl die Abmachung, wie eine Kindheit auszusehen hatte. Als sie sich ihre Pfiffigkeit langsam zunutze machen konnte, hatte Paolina dafür gesorgt, dass sie immer ein wenig Mehl aus der bedauernswerten Mühle oberhalb der Stadt erhielten und von Zeit zu Zeit getrockneten Fisch, den die faulen Fischer mit ihren Angeln aus dem Meer holten.
    Der Junge stellte keine Fragen zu ihrer Mutter, sondern aß den Brotkanten mit einer solchen Begeisterung, dass sehr deutlich wurde, wie lange er nichts Vernünftiges mehr zu essen gehabt hatte. Sie hatte ihm nur zwei kleine Stücke vom Laib abreißen und eine Hand voll getrockneter Sardinen geben können, aber Paolina wusste, dass es sich für zivilisierte Leute gehörte, dem Gast etwas zu essen anzubieten.
    Er hatte London gesehen, rief eine Stimme in ihr. London. Selbst Dr. Minor war nicht dort gewesen.
    In diesem Augenblick hasste sie a Muralha , Praia Nova und alles an ihrem Leben. Sie starrte auf das Messing am Himmel und fragte sich, wie sie es zerbrechen könnte, um die Erde und sich selbst zu befreien.
    »Danke«, sagte der Junge.
    »Hm?« Sie schluckte die schwierigeren Worte, die ihr auf der Zunge lagen, hinunter.
    »Danke. Sie wollten mich aus dem Dorf werfen, nicht wahr?«
    »Natürlich.« Paolina musste ihrer Wut zum Trotz lachen. »Du könntest ja etwas Gefährliches sagen oder tun. Nachrichten aus der weiten Welt helfen niemandem, sondern sie sorgen nur dafür, unsere Traditionen infrage zu stellen. Abgesehen davon verhungern wir.«
    »Ich auch.«
    Sie sah ihn sich genauer an. Der Junge trug einen Überwurf aus Leder, der auf seltsame Art zugeschnitten worden war – als ob Katzen ihn genäht hätten, die richtige Kleidung nur von Gemälden kannten. Darunter trug er ein dreckiges, zerrissenes Hemd und eine Leinenhose, die früher einmal weiß gewesen sein musste. Nackte Füße, das ließ sie zusammenzucken.
    »Du bist doch bestimmt nicht von der Mauer hierhergelaufen?«, fragte sie ihn.
    »Ich fiel von einem Schiff herunter.«
    Sie zwang sich, nicht auf den Ozean weit unter ihnen hinabzusehen, aber er musste ihre Zweifel in ihrem Gesicht gelesen haben, denn er hob zu seiner Verteidigung die Hand. »Von einem Luftschiff. Ich fiel von einem der Luftschiffe Ihrer Kaiserlichen Majestät.«
    Paolina war beeindruckt, und das geschah nur selten. »Für jemanden, der auf die Erde gestürzt ist, siehst du recht gesund aus.«
    »Ich hatte einen Fallschirm.«
    Das Wort sagte ihr nichts, aber sie würde ihn nicht um eine Erklärung bitten. Es musste sich offensichtlich um eine Vorrichtung handeln, mit der man seinen Sturz
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