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Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)

Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)

Titel: Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)
Autoren: Karen Winter
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Erstes Kapitel
    Gut Zehlendorf (Lettland), 1894
    D ie Maulschelle klatschte der schmächtigen Marenka so heftig ins Gesicht, dass sie gegen den Kamin taumelte, zu Boden stürzte, aufschrie und sich sogleich die Hand gegen die geschlagene Stelle drückte.
    »Du wagst es zu schreien?« Freiherrin Cäcilie von Zehlendorf kniff die Augen zusammen, die wie zwei schmale dunkle Schlitze aus ihrem kalkweißen Gesicht schauten. Ihre Unterlippe zitterte, der Busen bebte. Die geballten Fäuste presste sie fest an ihre Schenkel. Immer wieder rang die Freiherrin nach Luft, und die Haushälterin Ilme stand bereit, ihre Herrin sofort aufzufangen, falls sie ohnmächtig werden sollte.
    Das geschlagene Kindermädchen wimmerte auf, duckte sich und legte die Arme schützend über den Kopf. Gleichzeitig versuchte sie, den Knopfstiefeletten der Freiherrin auszuweichen, die wutentbrannt nach ihr trat.
    »Nicht!«, jammerte Marenka. »Bitte nicht.«
    Ein Tritt traf die Brust der jungen Frau, der nächste landete zwischen ihren Rippen.
    »Nicht, bitte nicht«, flehte Marenka weiter, doch schon wurde sie wieder getroffen, diesmal an der Schulter. Das Kindermädchen heulte auf. »Ich kann doch nichts dafür!«
    Das Gesicht der Gutsherrin war weiß, der Mund zur Grimasse verzerrt. »Und ob du etwas dafür kannst, du Trampel. Deine Aufgabe ist es, auf die Kinder aufzupassen. Und was hast du gemacht?«
    Ihre Stiefelspitze zielte jetzt auf Marenkas Bauch.
    Die Haushälterin rang die Hände. Noch nie hatte sie ihre Herrin so außer sich erlebt. In ihrer Verzweiflung ging sie dazwischen, packte die Freifrau bei den Handgelenken und sagte beruhigend: »Pscht, pscht. Davon wird’s nicht besser.«
    Sie führte Cäcilie von Zehlendorf zu einem Sessel, legte ihr eine Decke über die Beine und goss ihr einen Sherry ein. Dann nahm sie ein kleines braunes Fläschchen, das hinter den Flaschen der Bar verborgen war und die Aufschrift »Laudanum« trug. Zehn Tropfen davon ließ sie in das Sherryglas fallen. Dann wandte sie sich an die Kinderfrau, die noch immer auf dem Boden vor dem Kamin lag und leise schluchzte. »Ruf den Arzt, schnell.«
    »Den Arzt?«, fragte Marenka. »Wieso denn? Den brauchen wir doch nicht mehr. Soll ich nicht lieber nach dem Bestatter schicken?«
    Ilme sah das Kindermädchen drohend an und legte einen Zeigefinger auf ihre Lippen. Mit dem Kinn deutete sie auf die Freifrau, die halb von Sinnen in ihrem Sessel hing. »Mach schon. Tu, was ich dir sage!«
    Die Geschlagene rappelte sich auf und stürzte aus dem Salon.
    Ilme, eine dicke Frau in mittlerem Alter, die stets ein weißes Kopftuch und eine weiße Schürze über ihrem blauen Kleid trug, tätschelte der Freifrau die Hand. »Nu trinken Se mal.«
    Cäcilie von Zehlendorf leerte das Glas, dann schlug sie die Hände vor das Gesicht und begann heftig zu weinen. »Mein Gott, was für eine Tragödie. Was für eine furchtbare Situation! Was sollen wir nur tun?«
    »Nu, nu«, murmelte Ilme und zwinkerte die Tränen weg, die in ihr hochgestiegen waren. Sie hatte das Gefühl, als ob ein schwarzer, dunkler Stein sich auch auf ihre Brust gelegt hätte. Nur mit Mühe konnte sie einen langen verzweifelten Seufzer zurückhalten. »Dr. Matthus wird kommen«, sagte sie.
    »Wo ist sie?« Die Freifrau zog ein Spitzentaschentuch aus ihrem Ärmel und sah Ilme mit einem so verzweifelten Blick an, dass die Haushälterin wegschauen musste.
    »Nu, ich glaub, sie ist im Kinderzimmer. Mit dem jungen Herrn.«
    »Wie bitte? Mit Ruppert?« Die Freifrau sprang auf. »Wie kann man diesen Teufel mit Ruppert allein lassen?«
    Sie eilte aus dem Salon und hetzte die Treppe hinauf zum Kinderzimmer. Ilme folgte ihr.
    Im Kinderzimmer saßen ein kleines Mädchen im weißen Musselinkleid und ein etwas größerer Junge auf dem Boden und malten. Als ihre Mutter die Tür aufriss, fuhren sie zusammen, das offene Fenster schlug mit einem Knall gegen den Rahmen.
    »Ruppert!«, rief Cäcilie von Zehlendorf und breitete die Arme aus. »Ist dir etwas passiert? Hat sie dir auch etwas angetan?«
    Der sechsjährige Junge schüttelte stumm den Kopf. Seine Miene zeigte keinerlei Regung. Nur Ilme sah, wie er ein Blatt, das er augenscheinlich gerade bemalt hatte, in der Faust zerknitterte und hinter seinem Rücken verbarg.
    Das kleine Mädchen rappelte sich vom Boden hoch und stürzte der Mutter entgegen. Auf seinem Gesichtchen waren Tränenspuren zu erkennen. Das hellbraune zerzauste Haar ringelte sich bis auf seine Schultern, und einer
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