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Die Räder der Welt - Lake, J: Räder der Welt - Mainspring

Die Räder der Welt - Lake, J: Räder der Welt - Mainspring

Titel: Die Räder der Welt - Lake, J: Räder der Welt - Mainspring
Autoren: Jay Lake
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war ein junger Mann mit weit auseinanderliegenden Augen und undeutbarer Miene.
    »Meister Bodean, der Horologe.«
    Der Pförtner starrte ihn aus zusammengekniffenen Augen an, sodass Hethor sich rasch verbesserte: »Uhrmacher. Mein Meister ist Uhrmacher.«
    »Horo ... Horo ... warum muss sich denn ein Uhrmacher Bilder ansehen?«
    Gute Frage. Der Bibliothekspförtner schien geistig doch nicht ganz so träge zu sein. »Nun ja, zurzeit reparieren wir ein bemaltes Ziffernblatt. Die Bemalung hat ziemlich gelitten. Deshalb will der Meister eine Vorlage, die er dem Künstler für die Restauration an die Hand geben kann.«
    Der Pförtner überdachte Hethors Behauptung einen Augenblick. »Also gut, geh hinein und sprich mit Bibliothekarin Childress. Du findest sie an der schwarzen Theke, hinter dem zweiten Bogengang.«
    Sie? »Vielen Dank, Sir.«
    »Ich bin kein Sir«, murrte der Pförtner mit verletztem Stolz. »Ich arbeite für meinen Lebensunterhalt.«
    Hethor grinste, machte eine kurze Verbeugung und eilte in den Bibliothekssaal.
***
    Bibliothekarin Childress befand sich tatsächlich hinter dem zweiten Bogengang. Zwei spitz zulaufende Granitgewölbe erhoben sich über einem schwarz-weißen Marmorboden, auf dem stilisierte Darstellungen der zwölf Stationen der Räderung zu sehen waren, eine für jede geschlagene Stunde. Childress saß hinter einer hohen Bibliothekstheke, die der Kathedra eines Priesters ähnelte. Ihr ergrauendes Haar hatte sie so straff zusammengesteckt, dass es ihr auf den Kopf hätte gemalt sein können.
    Hethor wusste wenig über Mädchen und schon gar nichts über Frauen, ging aber davon aus, dass Bibliothekarin Childress sogar älter war als Meister Bodean. Ihr Gesicht war runzelig, und kleine Falten lagen um ihre dunkelbraunen Augen. Ihre Lippen waren schmal und fast blutleer. Trotz allem strahlte sie etwas Verlockendes aus. Hätte Hethor sie auf der Straße getroffen, wäre er vielleicht stehen geblieben, um sie heimlich zu betrachten.
    »Ich nehme an«, sagte Bibliothekarin Childress, »dass du dir eine phantasievolle Geschichte für den Pförtner ausgedacht hast, um hier hereinzukommen, anstatt wie ein kleiner Dieb einfach durch ein offenes Fenster zu steigen.« Ihr Tonfall war genauso kühl wie ihr Gesichtsausdruck.
    »Äh ...« Hethor fühlte sich noch törichter als sonst.
    »Die Studenten in Yale sind in der Regel nicht so jung wie du.« Childress schnupperte. »Und nicht einmal unsere Wunderkinder tragen Arbeitsstiefel«, fuhr sie fort. »Vor allem dann nicht, wenn sie so dreckig und abgewetzt sind wie deine. Außerdem trägst du drei Mathematik- und Geometrielehrbücher mit dir. Bücher, die jeder Student hier an der theologischen Fakultät längst hinter sich gelassen hat, sofern er Rationalhumanist ist. Oder die er niemals in die Hand genommen hat, falls er Spiritualist ist.«
    »Nein, Madam«, sagte Hethor.
    »Wie, nein?« Sie beugte sich vor. »Nein, du bist weder Rationalhumanist noch Spiritualist? Nein, du bist kein Yale-Student? Oder nein, du bist kein kleiner Dieb?«
    Hethor wäre am liebsten im Boden versunken oder hätte sich wenigstens davongestohlen. »Nein, ich ...« Er nahm seinen Mut zusammen. »Ich habe eine Frage.«
    »Dann frag. Zufällig kann ich einem kühnen jungen Lehrling wie dir ein paar Minuten widmen.«
    Hethor hatte das Gefühl, Teil eines Gesprächs zu sein, zu dem er kein einziges Wort beigetragen hatte. »Wie machen Sie das?«
    »Mit meinen Augen sehe ich, was vor mir steht und nicht das, was mein Verstand zu sehen erwartet. Also, wie lautet deine Frage?«
    »Ich muss mir Bilder anschauen, die den Engel Gabriel zeigen.«
    »Erzengel«, verbesserte ihn Bibliothekarin Childress. »Nun, vielleicht solltest du bei den Kunstgeschichtlern vorbeischauen. Das hier ist die theologische Bibliothek.«
    »Bitte, Madam. Ich hatte schon ein Riesenglück, es überhaupt bis hierher zu schaffen. Ich glaube nicht, dass ich noch mal kommen darf.«
    Bibliothekarin Childress seufzte und verschwand kurz hinter der Theke, bevor sie auf Bodenhöhe wieder erschien. Childress war dünn und klein – sie reichte Hethor nur bis ans Kinn –, wirkte aber größer. Sie trug ein knöchellanges schwarzes Kleid, das kein noch so winziges Detail ihres Körpers verriet. »Komm mit in den Lesesaal, junger Mann«, forderte sie Hethor auf.
    »Möchten Sie nicht meinen Namen wissen?«, fragte er und folgte ihr durch eine Doppelflügeltür, die mit Szenen aus dem Leben eines Heiligen verziert
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