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Die Räder der Welt - Lake, J: Räder der Welt - Mainspring

Die Räder der Welt - Lake, J: Räder der Welt - Mainspring

Titel: Die Räder der Welt - Lake, J: Räder der Welt - Mainspring
Autoren: Jay Lake
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Sehnen hervortraten. Das Blut pulsierte in seinen Adern. Das konnte nur eine Finte sein, eine Falle, eine teuflische Torheit, die Bodeans schreckliche Söhne und ihre Freunde in Yale sich ausgedacht hatten. »Es gibt keine Engel«, sagte Hethor. »Nicht mehr.«
    Gabriel streckte Hethor eine Faust entgegen und näherte sich ihm, wobei er sich nicht zu bewegen schien. Dann breitete er die Flügel aus und entblößte einen marmornen Körper, dessen Perfektion sich Hethor nun in seinem natürlichen Zustand darbot. Der Engel drehte die Hand nach oben und öffnete sie.
    Auf der Handfläche lag eine kleine Feder, nicht viel größer als eine Gänsedaune in Hethors vielfach geflicktem Kopfkissen. Der Engel spitzte die Lippen und blies, was die Luft vor seinem Mund wie Sternschnuppen in einer Sommernacht funkeln ließ, doch der Eindruck verblasste sofort wieder. Ein gewaltiger Donnerschlag ließ Hethor beinahe taub werden. Als er sich schüttelte, um den Lärm aus dem Kopf zu bekommen, hörte er die Glocken des Hauses und die Uhren im Laden läuten und klingeln, scheppern und rasseln – Hunderte von Uhren, die gleichzeitig die himmlische Stunde schlugen.
    Bald war Meister Bodeans schlaftrunkenes, lautes Fluchen aus dem Stockwerk unter ihnen zu hören, während die winzige Feder langsam zu der Stelle hinunterschwebte, an der eben noch der Engel gestanden hatte.
    Hethor fing sie auf und schnitt sich dabei in die rechte Handfläche. Während er sich vor Schreck und Schmerz mit der Linken in die Kniehose griff, schaute er sich an, was er da gefangen hatte.
    Die Feder war aus massivem Silber, und ihre Ränder waren messerscharf. Sie funkelte im Kerzenlicht. Hethor sah, dass die Schnittwunde in seiner Handfläche die Form eines Schlüssels besaß.
    »Hethor!«, brüllte Meister Bodean von unten. »Lebst du da oben noch, Junge?«
    »Komme schon, Sir«, rief Hethor zurück. Er legte die Feder auf sein Schreibpult, zog seine zwei Nummern zu kleinen Stiefel an, schnappte sich die eine Nummer zu kleine Jacke und stürmte durch die winzige Tür der Dachkammer die Treppe hinunter.
***
    Es dauerte mehr als eine Stunde, um alle Uhren in Meister Bodeans Werkstatt zu beruhigen. Einige hatten sämtliche Stunden geschlagen – die heilige Zahl Zwölf –, und waren dann wieder in ihrem tickenden Schlummer versunken. Andere, vor allem die mit der kleineren und feineren Uhrwerksmechanik, waren in ein nervöses Klingeln verfallen, das nur unter sorgfältigem Einsatz weichen Polierleders und Gummihämmern beendet werden konnte. Hethor und Meister Bodean arbeiteten sich von Uhr zu Uhr und kümmerten sich um deren Messing- und Kupferherzen, auch noch, als es bereits zur elften Abendstunde schlug.
    Schließlich blieben sie in der Werkstatt stehen. Die letzte Stunde und die viele Arbeit hatten sie erschöpft. Meister Bodean, ein rundlicher Mann mit rotem Gesicht, trug ein Nachthemd und einen grauen Pullover mit Zopfmuster. Er nickte Hethor zu und sagte: »Gute Arbeit, Junge.« Er war immer gerecht gewesen, auch wenn er Hethor bestraft hatte.
    »Vielen Dank, Sir.« Hethor sah sich in der Werkstatt um. Die beruhigende, vertraute Ordnung hatte wieder Einzug gehalten: Ein kleiner Ofen, der erst seit Kurzem durch Electricität angetrieben wurde. Rohlinge. Werkzeuge – von Hämmern, die mit bloßem Auge kaum zu erkennen waren, bis hin zu Schraubzwingen, mit denen man einem Mann den Schädel einschlagen konnte. Einzelteile in ihren Behältern: Federn und Zahnräder und Hemmungen sowie Messing, Stahl und Lagersteine in allen nur erdenklichen Größen und Formen.
    Es schien, als wäre der Engel Gabriel – Erzengel?, fragte Hethor sich unvermittelt – aus dem Geist dieser Werkstatt auferstanden. Hethor hatte bei diesem Engel ein Gefühl des Erstaunens verspürt, das ihm sonst nur eine kostbare Uhr vermittelte; das Wesen hatte eine Aura der Akribie, Sorgfalt und Präzision besessen, gepaart mit einer Kraft, die an die schwere Mechanik einer großen, wuchtigen Turmuhr denken ließ.
    »Alles in Ordnung mit dir, Junge?«, fragte Meister Bodean und unterbrach Hethors Gedanken. »Normalerweise bist du redseliger.«
    Hethor widerstrebte es, den Engel zu erwähnen. Bodean würde ihn sicher für verrückt halten. Schon der Gedanke klang schrecklich wichtigtuerisch. Er musste erst darüber nachdenken und zu begreifen versuchen, was eigentlich geschehen war. »Es ... es war der Blitz, Meister. Er hat mir Angst gemacht.«
    »Der Blitz, hm? Ja, das muss ein ganz schöner
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