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Die Räder der Welt - Lake, J: Räder der Welt - Mainspring

Die Räder der Welt - Lake, J: Räder der Welt - Mainspring

Titel: Die Räder der Welt - Lake, J: Räder der Welt - Mainspring
Autoren: Jay Lake
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Einschlag gewesen sein. Habe noch nie ein Unwetter erlebt, das alle Uhren zum Läuten gebracht hat.« Bodean schüttelte den Kopf. »Blitze. Sie sind fürwahr eines der großen Geheimnisse unseres Herrn.« Er ging zu einem der verschlossenen Schränke und zog einen Schlüsselbund aus einer Nachthemdtasche, um einen kleinen Flachmann aus Zinn und zwei Gläser herauszuholen. »Hört sich an, als könntest du selbst einen kleinen Blitz vertragen, mein Junge.« Goldene Flüssigkeit gluckerte in beide Gläser. »Das hier wird dir beim Einschlafen helfen.«
    Hethor hatte noch nie etwas Stärkeres getrunken als Tafelwein. Der Whiskey, oder was immer es sein mochte, reizte ihn nicht. Doch vor ihm stand Meister Bodean und hielt ihm lächelnd das kleine Glas entgegen. Hethor nahm es und schnupperte daran. Der scharfe Geruch nahm ihm fast den Atem.
    »Das ist ein echter Blitz«, sagte Meister Bodean mit einem Grinsen, das seine schlechten Zähne zum Vorschein brachte. Er setzte das Glas an die Lippen und leerte es in einem schnellen Zug.
    Hethor versuchte es Bodean gleichzutun. Ihm war, als würde er Feuer trinken. Er schaffte es gerade so, den Whiskey bei sich zu behalten, musste jedoch eine Hand über den Mund legen, um nichts davon auszuhusten. Der Whiskey schmeckte so, wie Hethor sich stets den Geschmack von Lampenöl vorgestellt hatte – scheußlich und scharf.
    Lachend schlug Meister Bodean seinem Lehrling auf den Rücken, was dessen Husten nur verschlimmerte. »Keine Sorge, Bursche. Morgen früh wird das alles für dich nur ein Traum gewesen sein.«
    Hethor wankte zurück in sein Bett. Ihm war heiß, und sein Schädel brummte. Unter seiner Decke wartete er darauf, Schlaf zu finden. Er hörte kaum, wie das Klappern der siderischen Mitternacht den Himmel erfüllte, hörte nicht, wie die Uhren des Hauses zur zwölften Stunde schlugen. Mit belegter Zunge und schwerem Kopf träumte er die ganze Nacht von Schlüsseln und Federn und Uhren mit Zähnen aus Stahl.
***
    Mit dem Morgen kamen das Sonnenlicht, Kopfschmerzen und die Erkenntnis, dass er zu spät zum Unterricht an der Lateinschule in New Haven erscheinen würde. Hethor schlüpfte eilig in seine beste Hose und sein zweitbestes Hemd, während er den Kopf freizubekommen versuchte. Obwohl er in der Dachkammer keine Uhr hatte, wusste Hethor stets, wie spät es war; deshalb war ihm klar, dass er es nicht rechtzeitig zu Meister Sullivans Mathematikunterricht schaffen würde. Und da er Meister Sullivan kannte, wusste er obendrein, dass die Tür verschlossen sein würde und er bei Rektor Brownlee um Nachsicht bitten müsste.
    Für einen einfachen Lehrling war das nicht ungefährlich. Niemand würde Brownlee maßregeln, wenn er einen Jungen von Hethors niederem Stand von der Schule verwies, selbst wenn er im letzten Jahr war. Hethor hatte es nur dem Wohlwollen Meister Bodeans und dem Rest des Geldes, das sein verstorbener Vater hinterlassen hatte, zu verdanken, dass er die Schule bis zu seinem sechzehnten Lebensjahr besuchen konnte.
    Hethor schlüpfte in seine Cordjacke – ein weiteres, in der Familie Bodean bereits getragenes Kleidungsstück. Er wollte gerade nach unten eilen, die Stiefel zwischen den Fingerspitzen gepackt, als etwas seine Aufmerksamkeit erregte. Es war die kleine silberne Feder, die funkelnd auf seinem Schreibpult lag.
    Die Erinnerung an die letzte Nacht war wie ein Schlag ins Gesicht: der Engel Gabriel, die Feder, die Uhren, der Schlüssel der Ewigen Bedrohung ...
    Pflicht.
    Er war nicht verrückt! Er hatte nicht geträumt! Aber er musste erst alles verstehen, bevor er es Meister Bodean oder jemand anderem erklärte.
    Hethor ließ die Stiefel fallen, zog sie an, schnappte sich die Feder und trampelte die Treppe hinunter. Die Lateinschule in New Haven lag fünfzehn Gehminuten südöstlich von Meister Bodeans Uhrmacherwerkstatt (»Individuelle Anfertigungen Und Reparaturen Rund Um Die Uhr«). Stattdessen bog Hethor auf die King George III Street ein und dann nach links in Richtung Westen auf die Elm Street, zur Universität Yale, wobei er die weitere Verärgerung Rektor Brownlees in Kauf nahm.
    Der Besuch des Engels war zu wirklich gewesen, um ihn zu ignorieren.
***
    Meister Bodeans ältester Sohn, Pryce, studierte Theologie an der Berkeley School in Yale. Pryce war von Bodeans drei Söhnen derjenige gewesen, der Hethor seit seinem Einzug in die Dachkammer der Uhrwerkstatt im Alter von elf Jahren am wenigsten gequält hatte, was wohl auch damit zusammenhing,
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