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Die Quelle

Titel: Die Quelle
Autoren: James A Michener
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und er war sich der einzigartigen Geschichte seines Volkes bewußt. Die Juden hatten alle Verfolgungen einzig und allein deshalb überlebt, weil, wie der Wodscher Rebbe sich bewußt war, ihre Rabbinen sie unerbittlich zur Gesetzestreue angehalten hatten, und wenn dieses Gesetz gewisse Härten mit sich brachte, so war das nichts Neues. Das hatte es schon immer gegeben. Das Gesetz brauchte deshalb nicht aufgehoben zu werden. Wohl aber bedurfte es einer neuen geistigen Autorität, wenn im zwanzigsten Jahrhundert die Kämpfe ausgefochten werden sollten, die schon der große Akiba im zweiten Jahrhundert durchgefochten hatte. Das Gesetz mußte humaner werden, mußte den Erfordernissen einer neuen Zeit angepaßt werden. Eliav war davon überzeugt, daß, wenn Akiba heute noch lebte, er es bereits längst vereinfacht und den heutigen Daseinsbedingungen angeglichen hätte, wie er es einst zu den Zeiten der Römer getan hatte.
    Aber das Gesetz würde weiterbestehen. Das Gesetz allein konnte Israel am Leben erhalten. Wo sind die Chaldäer geblieben und die Moabiter, die Phönizier und die Assyrer, wo die Churriter und die Hethiter? Alle waren sie mächtiger gewesen als die Juden. Und dennoch hatten sie dahingehen müssen. Die Juden aber waren geblieben. Wo ist Marduk, der große Gott der Babylonier, wo der Dagon der Philister, wo der Moloch der Phönizier? Sie, die einst so gewaltigen Götter, die den Menschen Schrecken eingeflößt hatten, waren nicht mehr. Aber der versöhnliche, wenn auch manchmal unbequeme Gott der Juden hatte nicht nur weiterbestanden, sondern auch zwei Religionen ins Leben gerufen. Und Gott übte Seine Macht aus durch das Gesetz.
    Es war keine leichte Aufgabe, ein Jude zu sein und zugleich der Hüter der Gesetze Gottes. Sein Gesetz war streng und schwer zu befolgen, aber es hob auch den Menschen über sich hinaus. Es verlangte, geachtet und in Ehren gehalten zu werden, verlangte vielleicht sogar blinden Gehorsam. Es kann keine größere Aufgäbe geben, dachte Eliav, als Mittel und Wege zu ersinnen, die es den Juden in Israel und ihren um so vieles zahlreicheren Brüdern in Amerika ermöglichen, an diesem lebenswichtigen Gesetz teilzuhaben und die Verantwortung für seinen Fortbestand auf sich zu nehmen. Er mußte an ein bissiges Scherzwort denken: »Die Aufgabe des amerikanischen Juden ist es, einem deutschen Juden in Jerusalem Geld zu schicken, der es dann einem polnischen Juden im Negev zukommen läßt, damit der es einem spanischen Juden in Marokko möglich macht, nach Israel zu kommen.« Es gab aber noch weit mehr als nur das.
    Am Tage seiner Abreise hatte John Cullinane in seiner unbefangenen irischen Art gefragt: »Ilan, warum macht ihr Juden euch das Leben eigentlich so schwer?« Eliav war im Augenblick keine Antwort eingefallen. Jetzt aber, nachdem er Vered aus einem jüdischen Beweggrund verloren hatte, jetzt, nachdem er nun mitten in eine jüdische Verantwortung hineingestoßen worden war, wußte er sie: Des Lebens Bestimmung ist es nicht, einfach zu sein; es soll gelebt werden. Und keine Religion verteidigt die schlichte Würde zu leben so hartnäckig. Das Judentum stellt weder ein Leben nach dem Tode in den Vordergrund noch eine zukünftige Strafe oder einen Himmel. Was würdig und gut ist, das ist hier und heute, hier in Zefat. Wir suchen Gott so inbrünstig, sinnierte Eliav, um dann nicht Ihn zu finden, sondern uns selbst zu erfahren.
    Von dem Platz, an dem er in diesem Augenblick stand, konnte er die Stelle in Tiberias erkennen, an der er den englischen Lastwagen in die Luft gesprengt hatte. Und dort waren die Straßen von Zefat, wo er sein Maschinengewehr bedient hatte. Er schwor sich, daß alle Gewalttätigkeit auf immer ein Ende haben solle. Er wollte versuchen, ein Jude zu werden wie Akiba. Ein Bauer war der große Weise gewesen, und mehr als vierzig Jahre alt hatte er werden müssen, bis er das Schreiben lernte - ein Autodidakt und doch der größte Gesetzeslehrer seiner Zeit, ein Mann, der mit siebzig Jahren eine völlig neue Art zu leben verkündete. Die Römer richteten ihn schließlich hin. Mit glühenden Zangen rissen sie ihm das Fleisch aus dem Leib, einem nunmehr Fünfundneunzigjährigen, der, dem Gesetz nach, vielleicht nicht einmal ein Jude gewesen war. Denn es hieß, er sei ein Nachfahre des Sisera, jenes unzüchtigen Feldherrn der Kanaaniter, den Jael mit einem Zeltpflock getötet hatte. Akiba aber war so gottbeseelt, daß er sich, als die römischen Krieger sein Fleisch nahe
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