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Julischatten

Julischatten

Titel: Julischatten
Autoren: Antje Babendererde
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1. Kapitel
    Verbannung. Anders konnte Sim das, was ihr bevorstand, nicht bezeichnen. Sie starrte aus dem kleinen Fenster auf die endlose weiße Wolkenlandschaft, die sich unter ihr erstreckte wie die Weiten der Arktis. Ihre Eltern schickten sie in die Verbannung. Die Erziehungsmaßnahmen waren gescheitert, ihre Geduld war am Ende, sie wussten nicht mehr weiter.
    Du trinkst zu viel, Simona.
    Sim presste ihre Stirn an die Plexiglasscheibe und schloss die Augen. Mit sechzehn bestand das Leben aus einer ganzen Reihe von Problemen und der Alkohol war nichts weiter als ein Mittel, sie für eine Weile verschwinden zu lassen. Simsalabim und weg.
    Am liebsten mochte sie Tequila. Der mexikanische Agavenschnaps war zwar teuer (sie war auf Taschengeld angewiesen), aber das Trinkritual gefiel ihr: erst das Salz auf der Zunge, dann der Schnaps in der Kehle und zum Schluss der Biss in ein Stück Zitrone. Die Geschmacksnerven der Zunge meldeten: salzig und sauer. Den Alkohol registrierten sie gar nicht.
    Tequila wird aus dem süßen Herz der blauen Agave gebrannt, das die mexikanischen Ureinwohner Das Haus des blauen Mondes nennen. Konnte etwas mit einem so schönen Namen verwerflich sein? Der Agavenschnaps half Sim, sich zu entspannen, er verbesserte ihre Laune, machte sie mutig. Er war ein guter Freund, verlässlicher als alle anderen, und ihn in ihrer Nähe zu wissen, war ein beruhigendes Gefühl. Aber sie konnte auch gut ohne ihn auskommen, obwohl ihre Eltern zuletzt vehement das Gegenteil behauptet hatten.
    So ein Blödsinn. Sie wusste genau, wann sie aufhören musste – bis auf das eine Mal, in der Nacht vor ihrem sechzehnten Geburtstag. Das war ein Ausrutscher gewesen, so etwas konnte schließlich jedem passieren. Sogar Merle, Sims Superschwester, war mal sturzbetrunken von einer Party nach Hause gebracht worden. Sie hatte zwei Wochen Hausarrest bekommen und die Sache war vergessen.
    So lief das bei Familie Klinger: Für Merle (die Perle) zwei Wochen Stubenarrest und für Sim sechs Wochen Verbannung. Ihre Eltern und Merle, das passte in einen Rahmen – nur Sim hatte immer das Gefühl herauszufallen. Das fing beim Aussehen an und endete bei ihrer umfassenden Talentlosigkeit. Als ob sie und Merle nicht aus demselben Genpool stammten.
    Irgendwann hatte Sim ihre Eltern gefragt, ob sie adoptiert worden war und sie vielleicht den Zeitpunkt verpasst hatten, ihr das zu sagen – aber sie hatten nur gelacht.
    Sim wohnte mit ihren Eltern auf dem Land, in Weisburg, einem kleinen Dorf in Thüringen mit dreihundert Seelen. Ihr Vater war Internist und arbeitete im nahe gelegenen Provinzkrankenhaus.
    Als sie noch kleiner war, hatte Sim das Landleben gemocht. Das Wiehern der Pferde auf der Weide des Nachbarn, das kleine Schwimmbad am Rande des Dorfes, die Obstwiese, die zum Grundstück gehörte, der nahe Wald. Dass ihre Mutter Lehrerin war und sie im Auto zur Schule mitnehmen konnte, ersparte ihr und Merle die Fahrt mit dem Schulbus, führte allerdings auch dazu, dass sie die Verabredungen der anderen Kinder aus Weisburg oft nicht mitbekamen, die auf der Heimfahrt im Bus ausgemacht wurden. Für einen Großteil der Dorfbewohner waren sie nach all den Jahren immer noch die Zugezogenen, auch wenn ihre Eltern sich einbildeten, inzwischen dazuzugehören, bloß weil ihr Vater brav zu den Gemeindeversammlungen ging und ihre Mutter jedes Jahr einen Kuchen für das Dorffest backte.
    Die Tatsache, dass in diesem Nest nichts, aber auch gar nichts los war, was einen Teenager dazu animieren könnte, keinen Blödsinn zu machen, kam Sims viel beschäftigten Eltern überhaupt nicht in den Sinn. Ihr Maßstab war Merle-Perle, die personifizierte Tüchtigkeit. Sie sang im Schulchor, besuchte die Aristoteles-AG (ein Verein jugendlicher Hobbyphilosophen) und nahm Violinstunden an der Musikschule. Doch das war noch nicht genug. In ihrer verbliebenen Freizeit machte Sims Schwester sich im Tierheim nützlich und gab dem Jungen des Nachbarn (einer kleinen Dumpfbacke) Nachhilfe in Mathe.
    Es war aussichtslos, da noch mithalten zu wollen. Sim blieb nichts, womit sie die Anerkennung ihrer Eltern erringen konnte, denn in allem, was sie anfing, war Merle um Längen besser. Sim zog in ihrer Freizeit mit Nadja und ein paar anderen ums Dorf und trank, was gerade da war.
    Als eines Sonntagmorgens die Polizei vor der Tür stand, wurden Herr und Frau Klinger unsanft aus ihren Träumen gerissen. Jemand war ins dorfeigene Freibad eingebrochen und hatte Geld aus der Kasse
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