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Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Titel: Die Prophezeiung der Schwestern - 1
Autoren: Michelle Zink
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ernsthaft.
    Ich schüttele den Kopf und ihre Augen werden groß vor neu entdeckter Sorge.
    »Was… was ist los? Hast du mit dem Arzt gesprochen?«

    Mein Hals tut weh, als ich schlucken muss, und eine Sekunde lang habe ich Angst, dass ich anfangen werde zu weinen, dass die Tränen, von denen ich glaubte, sie im Überfluss vergossen zu haben, noch nicht gänzlich geflossen sind.
    »Nein. Es gibt nichts, was ein Arzt für mich tun könnte. Er kann Henry nicht zurückbringen, oder?« Die klagende Frage ist eigentlich gar keine Frage, aber trotzdem lasse ich Raum für eine andere Antwort als die, die wir beide als Wahrheit kennen.
    Alice schüttelt den Kopf. »Nein.«
    Ich packe den Bettpfosten und reibe mit beiden Daumen über das warme Holz, nur um meine ruhelosen Hände zu beschäftigen. »Ich reise morgen früh ab.«
    »Tante Virginia hat es mir erzählt. Du fährst also nach London?«
    Ich nicke. Tante Virginia und ich sprachen darüber, ob wir meinen Aufenthaltsort aus Sicherheitsgründen geheim halten sollen, aber die Wahrheit ist, dass ich Alice in den Anderswelten viel mehr fürchte als in meiner eigenen. Außerdem genieße ich durch meine Rolle als Tor einen gewissen Schutz. Alice befindet sich in einem Dilemma, denn obwohl sie mich gern aus dem Weg hätte, muss sie anerkennen, dass es ihr mehr nützt, wenn sie versucht, mich auf ihre Seite zu ziehen, als mich gänzlich auszuschalten.
    Zumindest rede ich mir das in meinen dunkelsten Stunden ein. In den Stunden, in denen ich mich der Wahrheit stellen muss: Dass mein Leben durch meine eigene Schwester bedroht wird.

    Sie holt tief Atem, bevor sie fortfährt. »Lia. Ich wollte nicht… das heißt, ich weiß nicht,… warum ich tat, was ich tat. Es geschah alles so schnell, nicht wahr?«
    Ich sollte wütend sein. Ich sollte außer mir sein vor Zorn. Und doch finde ich in meinem Herzen nur eine seltsame Taubheit. Mein Zorn ist mir genauso wenig eine Hilfe wie meine kalten Glieder nach dem Kampf in dem tosenden Fluss.
    »Ja. Es geschah sehr schnell.« Es ist ein Flüstern, die Erinnerung an jenen Tag, ein Geist, der mich nicht zur Ruhe kommen lassen wird. »Aber du hast dich eindeutig auf eine Seite der Prophezeiung gestellt. Auf die andere Seite.«
    »Wir stehen seit Anbeginn der Zeiten auf unterschiedlichen Seiten, Lia. Wir hatten nie eine andere Chance, als Gegnerinnen zu sein. Begreifst du das nicht? Noch immer nicht? Willst du immer noch einer von uns einen Vorwurf machen? Können wir nicht einfach akzeptieren, dass dies unser Schicksal ist? Dass keine von uns die Schuld daran trägt?«
    Ich lehne meinen Kopf gegen den Bettpfosten und starre auf die ineinander verschlungenen Muster der Schnitzereien. »Es stimmt, dass unsere Namen vor langer Zeit in der Prophezeiung niedergeschrieben wurden, Alice. Aber wir hatten die Wahl. Wir beide. Es gibt immer eine Wahl. Du hast deine getroffen. Und ich meine. Es ist nur bedauerlich, dass wir uns nicht für dieselbe Seite entschieden haben.«
    Sie steht auf und kommt auf mich zu, lächelt ihr echtes
Alice-Lächeln, und ich werde sie immer so vor mir sehen, wenn ich an sie denke. Dieses strahlende Lächeln, das einen dazu bringt, fast alles zu tun, nur um seine Wärme zu spüren. Sie bleibt vor mir stehen und legt ihre Hände neben meinen auf den Bettpfosten, beugt sich vor, bis ihre Stirn an meiner liegt, wie früher, als wir noch klein waren.
    »Ich werde dich vermissen, Lia. Was auch geschieht.«
    Ihre Haut ist kühl. »Und ich werde dich vermissen.« Ich richte mich auf, befürchte, dass ich vergessen könnte, wer sie ist, wenn ich zu lange verweile. Dass ich vergesse, was sie will, was sie getan hat. »Aber wir werden uns wiedersehen.«
    Sie macht einen Schritt von mir weg und greift nach meiner Hand, die sie schnell wieder fallen lässt. »Ja.«
    Ich schaue in das bodenlose Grün ihrer Augen, ein Spiegel meiner eigenen. »Du willst also deine Position nicht noch einmal überdenken? Selbst jetzt nicht?«
    Sie schüttelt den Kopf. »Gerade jetzt nicht. Unsere Sache zu verraten, wo doch eine von uns ganz bestimmt versagen wird, wäre närrisch.« Ihr Blick, unverwandt auf mich gerichtet, verwandelt sich in Eis. Ihre Augen sind so leer wie der See im Winter. »Und ich bin ganz bestimmt keine Närrin, Lia.«
    Mehr bleibt nicht zu sagen. Ihre Worte haben die Schlachtlinien noch tiefer eingegraben. Wenn wir uns das nächste Mal begegnen, wird keine Freundlichkeit mehr zwischen uns stehen.

    Mit einem Ruck drehe ich mich um.
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