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Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Titel: Die Prophezeiung der Schwestern - 1
Autoren: Michelle Zink
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Verlust ertragen, geschweige denn, ihn in den Augen jener zu sehen, die mit mir leiden. Ich bin fast froh, dass James nicht da ist - seinem Vater geht es nicht gut -, denn seine liebevolle Fürsorge könnte ich heute einfach nicht ertragen.
    »Asche zu Asche, Staub zu Staub«, sagt der Reverend. Tante Virginia tritt vor und öffnet ihre Faust über dem Loch im Boden, lässt den Schmutz auf Henrys Grab fallen. Ihr Gesicht ist angespannt und bleich. Wenn es einen Menschen gibt, der meine Qual kennt, dann ist es Tante Virginia.
    Ich habe mehrmals angesetzt, ihr zu erzählen, was damals am Fluss mit Alice und Henry geschah, aber irgendetwas hält mich davon ab, die Worte laut auszusprechen. Die Vernunft vielleicht, denn ohne Beweis oder Zeugen würden Alice und ich zwei gänzlich unterschiedliche Versionen der Geschichte erzählen, daran besteht kein Zweifel. Aber da ist noch etwas anderes: der leere Ausdruck in Tante Virginias Augen und die Erkenntnis, dass sie nicht noch mehr ertragen kann. Und wenn ich ganz ehrlich zu mir selbst bin, dann ist auch die heftige und gewaltige Rage ein Grund für mein Schweigen, eine Rage, die mich von innen heraus verbrennt. Eine Rage, die nach Rache verlangt.
    Zu gegebener Zeit.
    Wenn ich es will.

    Ich schaue weg, als Alice vor das Grab tritt, ihre Hand hebt und die Erde mit einem dumpfen Klatschen auf Henrys kleinen Sarg fallen lässt.
    Tante Virginia sieht mich an, aber ich schüttele den Kopf. Ich will nicht für den kleinsten Krümel Dreck verantwortlich sein, der Henry, in der Erde neben meiner Mutter und meinem Vater liegend, bedeckt. Ich trage bereits meinen Teil an der Schuld.
    Das ist mehr als genug.
    Meine Tante nickt und blickt zum Reverend hin, der ihr Signal versteht. Er klappt die Bibel zu und spricht noch ein paar Worte, bevor er den Kopf neigt und Alice und mir etwas Unverständliches zumurmelt. Ich kann seine schwarz gewandete Anwesenheit kaum ertragen, so voller Tod und Verzweiflung. Ich nicke und wende den Kopf ab, dankbar, dass er rasch weitergeht.
    »Komm, Lia. Wir wollen zum Haus zurückgehen.« Tante Virginia steht neben mir und legt mir die Hand auf den Arm. Ich spüre ihre Besorgnis, aber ich kann mich nicht überwinden, sie anzuschauen.
    Ich senke den Kopf.
    »Du kannst nicht den ganzen Tag hierbleiben, Lia.«
    Ich muss hart schlucken, weil ich meine Stimme so lange nicht gebraucht habe. »Ich komme gleich.«
    Sie zögert, ehe sie mich gewähren lässt. »Also gut, Lia. Aber bleibe nicht zu lang.«
    Sie geht weg, gefolgt von Alice. Jetzt bin ich mit Edmund allein. Edmund steht schweigend etwas abseits, den Hut in
den Händen und Tränen auf dem rauen, faltigen Gesicht, als wäre er ein kleines Kind. Seine Anwesenheit spendet mir Trost, und ich habe nicht den Eindruck, dass er etwas von mir erwartet.
    Ich starre in die Leere, wo der Körper meines Bruders die Ewigkeit verbringen wird. Der Gedanke, sein jungenhaftes Lächeln und seine strahlenden Augen in diesem Abgrund zu lassen, erschreckt mich und erfüllt mich mit Trauer. Die Erde wird kälter und härter werden mit dem Fortschreiten des Winters, und dann wird der Frühling die wilden Blumen zum Erblühen bringen. Und ich werde nicht hier sein, um es zu sehen.
    Ich versuche, es mir vorzustellen, will mir ein Bild malen von Henrys Grab, übersät mit lila Blüten. Will es mir ins Gedächtnis einprägen, damit ich es hervorholen kann, wenn ich weit weg bin. Und dann nehme ich Abschied.
     
    Trotz meiner Erschöpfung ist es mir nicht möglich, in der Nacht nach Henrys Begräbnis zu schlafen. Aber es ist nicht meine Trauer, die mich wach hält. Es ist etwas anderes, etwas, das gerade jenseits meines Bewusstseins liegt. Etwas, das wichtig ist, obwohl ich nicht weiß, warum.
    Es ist die Geschichte aus meiner Kindheit, die mir nicht aus dem Kopf geht, dieselbe Geschichte, mit der Vater seine Identität unter Beweis stellte, als er durch Sonia zu mir sprach. Ich erinnere mich daran. Ich erinnere mich, wie Henry versuchte, tapfer zu sein, es aber nicht vermeiden konnte, dass ihm die Tränen aus den Augen liefen, als sein
kleines Boot fröhlich flussabwärts schaukelte. Ich erinnere mich daran, dass Alice nicht wollte, dass ich das unglückselige Floß baue, dass sie mir nicht einmal helfen wollte, etwas zu unternehmen. Und ich erinnere mich, wie ich selbst, schweißgebadet und tölpelhaft in meiner gestärkten Schürze, wahllos Nägel in irgendwelche Bretter schlug, weil wir doch nicht einfach danebenstehen konnten,
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