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Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Titel: Die Prophezeiung der Schwestern - 1
Autoren: Michelle Zink
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weil wir doch nicht einfach zuschauen konnten, wie Henry weinte, weil sein geliebtes Spielzeug hinter der Flussbiegung verschwand.
    Es ist die Erinnerung an Henry, die mich in sein Zimmer treibt. Seine Augen, sein Gesicht, sein herzliches Lächeln. Vielleicht will ich ihm nur ein letztes Mal nahe sein, bevor ich gehe.
    Das Zimmer ist still, alles ist so, wie er es verließ. Ich schließe die Tür hinter mir, will den Raum in diesem letzten Moment, in dem ich meinem Bruder nahe bin, ganz für mich allein haben. Ich setze mich auf sein Bett und hebe sein Kissen hoch. Es riecht immer noch nach ihm. Nach Büchern, nach dem Haus, das seine Zuflucht und sein Gefängnis war, und ganz leicht nach der Süße von klebrigen Kleinjungenfingern. Meine Brust verengt sich mit solcher Gewalt, dass ich glaube, nicht mehr atmen zu können.
    Ich lege das Kissen zurück und streiche es glatt, wie früher, als er noch ganz klein war und ich ihn zudeckte oder ihm eine Gutenachtgeschichte vorlas. Ich gehe zu dem Bücherregal, denn Henry teilte Vaters und meine Liebe für Bücher und gute Geschichten. Es stehen
viele Bücher da, alle, die ich selbst als Kind liebte. Meine Augen fallen auf den Einband der Schatzinsel , und ich erinnere mich an seine leuchtenden Augen und seine Begeisterung für diese Geschichte, die wir manchmal gemeinsam lasen. Ich ziehe es aus dem Regal und erfreue mich an dem Gewicht in meiner Hand, an der Weichheit des alten Leders.
    Das Buch ist so, wie ich es in Erinnerung habe, mit Radierungen, die unterschiedliche Szenen aus der Handlung zeigen. In einer davon arbeiten Männer an einem Strand, graben nach verborgenen Schätzen, und dieses Bild ist es, was den Funken in meiner Erinnerung entzündet.
    Vater sagte mir, ich solle sie verstecken. Er bat mich, auf sie aufzupassen. Für dich, Lia .
    Mein Geist will diese Möglichkeit leugnen, aber mein Herz ist bereits weit voraus, wägt ab, ob der ziellose Gedanke vielleicht doch nicht so ziellos ist.
    Ich lasse meine Augen über das Regal gleiten. Ich weiß, dass es hier ist, seit Henry sein Spielzeugboot an den Fluss verlor. Zunächst sehe ich es nicht. Es steckt hinter einer Buchreihe. Aber als meine Augen auf dieses strahlende Rot fallen, das nach all den Jahren noch so fröhlich und lebendig wirkt wie am ersten Tag, weiß ich, dass ich es gefunden habe.
    Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und greife nach dem Glas, denke dabei an die vielen Stunden, die Vater und Henry brauchten, um die Replik zu bauen. Vater, der mit seinen Händen gewöhnlich nicht viel mehr anzufangen
wusste, als Bücher anzufassen und zu liebkosen, verbrachte Tage damit, gemeinsam mit Henry vorsichtig die winzigen Holzteile zusammenzunageln. Sorgfältig bemalten sie das Stück in der gleichen Farbe wie Henrys Original, das verloren ging, und brachten es dann zu einem Glaser, um es versiegeln zu lassen, damit Henry immer eine Erinnerung an sein geliebtes Spielzeug haben konnte.
    Das Glas liegt kalt und glatt in meiner Hand, und ich versuche, es von dem Sockel, auf dem das Boot liegt, zu lösen. Aber beide Elemente sind fest miteinander verbunden. Ein kleiner Teil von mir schämt sich dafür, dass ich vorhabe, Henrys Modell auseinanderzunehmen, aber ein anderer Teil - dieser mächtiger als der andere - fühlt, dass ich genau aus diesem Grund hierher geführt wurde.
    Ich drehe das Behältnis um und erkenne, dass es nicht viele Stellen gibt, wo sich ein Versteck befinden könnte. Wieder widme ich meine Aufmerksamkeit dem hölzernen Sockel. Er ist eckig und mit einem dunklen Lack überzogen. Ich ziehe stärker, aber nichts rührt sich. Dann lässt mich die Höhe des Sockels innehalten. Er ist mindestens sieben Zentimeter hoch und wirkt unpassend für ein so kleines Boot. Natürlich ist es möglich, dass er absichtlich so gemacht wurde, um Henrys Boot einen Ehrenplatz zu geben, als Tribut meines Vaters für seinen einzigen Sohn.
    Oder um etwas darin zu verstecken.
    Ich nehme die Glashaube fest in die Hand und untersuche die Unterseite des Sockels auf irgendwelche Hinweise,
einen Riegel, einen Haken, irgendetwas, an dem man ziehen könnte. Aber da ist nichts. Dann versuche ich es mit Drehen, aber schon bald wird mir klar, wie lächerlich es ist, etwas Viereckiges drehen zu wollen. Die vollkommenen Kanten, die glatten Seiten legen eine einfachere Lösung nahe. Und als ich beide Daumen auf die Unterseite lege und schiebe, gleitet die dünne Holzplatte mühelos zur Seite, als ob sie nur auf mich gewartet
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