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Die Philosophin

Die Philosophin

Titel: Die Philosophin
Autoren: Peter Prange
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Sie verurteilt?«, fragte sie. »Weil Sie den König vor dem Revolutionstribunal verteidigt haben?«
    »Das Gericht hat befunden, ich hätte gegen die Freiheit des französischen Volkes konspiriert. Aber kommt es darauf noch an?«
    »Sie – ein Konspirateur gegen die Freiheit?« Sophie schüttelte den Kopf. »Seit ich Sie kenne, haben Sie sich für die Freiheit eingesetzt, für die Freiheit und die Aufklärung. Wissen das diese Leute denn nicht?«
    Malesherbes zuckte die Schultern. »Sie sind verblendet, Sophie. Von ihrem Hass und von ihren Prinzipien, die vielleicht noch mehr Schaden anrichten als ihr Hass. Sie sind beseelt von der Idee der Gerechtigkeit, doch sie betreiben die Gerechtigkeit mit demselben Fanatismus, den früher die Jesuiten bei ihrem Kampf für das Gottesgnadentum des Königs gezeigt haben. Sie kennen nur die Logik des Verstandes, handeln allein aus kalkulierender Vernunft. Sie haben keine Liebe.«
    Sophie nickte. Sie hatte fast dieselben Worte gegenüber ihrem Sohn gebraucht, der das Regiment der Jakobiner als eine grausame, aber unabdingbare Notwendigkeit des Fortschritts verteidigte.
    »Manchmal«, flüsterte sie, »habe ich das Gefühl, die Welt ist dunkler denn je.«
    »Nein, Sie dürfen so nicht sprechen«, sagte Malesherbes. »Der kleinste Funke der Aufklärung leuchtet immer noch heller als der dunkle Mond des Aberglaubens. Vergessen Sie nicht, wir stehen erst am Anfang, und es werden noch viele nach uns kommen! Die Aufklärung ist nicht mit einer einmaligen Kraftanstrengung zu leisten, und sei diese noch so groß, sie ist eine Sisyphusarbeit, eine immer wieder neue Aufgabe, an der jede Generation weiterarbeiten muss, jede auf ihre Weise. Die Enzyklopädie hat für die Menschheit ein riesiges Tor aufgestoßen, jetzt liegt es an den Menschen, durch dieses Tor zu schreiten. Doch dafür müssen sie lernen, nicht nur ihrem Verstand zu folgen, sondern auch ihrem Herzen.«
    Sophie blickte aus dem Gitterfenster. In der Krone eines Apfelbaums hockte auf einem frisch erblühten Zweig ein Spatz, der sich das Gefieder putzte, so gründlich, dass er die Katze nicht bemerkte, die sich an ihn heranschlich. Sophie drehte sich wieder zu Malesherbes herum.
    »Meinen Sie, dass eine solche Zeit je kommen wird?«
    »Wer weiß?«, erwiderte er. »Vielleicht irre ich mich, und mein Traum ist nur eine leere Illusion, das Geschwätz eines senilen Greises. Trotzdem, ich halte daran fest, weil der Glaube und die Hoffnung und die Liebe nicht weniger zählen als der Verstand und die Erfahrung und die Vernunft. Denn nur solange die Menschen den Glauben an eine bessere Zukunft haben, voller Hoffnung und Liebe, haben sie einen Grund zum Leben. Und das ist das Wichtigste.«
    »Das sagen Sie?«, fragte Sophie. »Am Tag Ihrer Hinrichtung?«
    Er lächelte ein müdes Lächeln. »Ich bin jetzt zweiundsiebzigJahre alt«, sagte er, »alt genug, um die Gerechtigkeit zu ertragen. Auch dann, wenn sie Umwege und Irrwege nimmt, um sich Geltung zu verschaffen. Ich habe den Tod verdient und bin bereit zu sterben. Nicht, weil ich den König verteidigt habe oder ein Verschwörer sein soll, sondern weil ich …«
    Er verstummte. Sophie blickte ihn an. Sie verstand auch ohne Worte, was er ihr sagen wollte. Ja, jetzt wusste sie, warum er sie zu sich gerufen hatte.
    Als würde er ihre Gedanken erraten, sprach er die eine, alles entscheidende Frage aus: »Kannst du mir verzeihen, Sophie?«
    Sie schlug die Augen nieder. Obwohl sie die Frage erwartet hatte, konnte sie ihm keine Antwort geben. Mochte die Vergangenheit noch so weit zurückliegen, die Wunde, die er mit seiner Schuld gerissen hatte, schmerzte immer noch in ihrer Seele. So viele weitere Fragen waren mit dieser einen Frage verknüpft … Wie wäre ihr Leben verlaufen, wenn ihre Mutter hätte weiterleben dürfen? Vielleicht hätte sie nie diese Angst gehabt, die sie ein Leben lang verfolgt hatte, die Angst vor der Liebe, die Angst vor den Büchern … Vielleicht hätte sie Jahre und Jahrzehnte an Diderots Seite gelebt, als die glücklichste Frau der Welt … Hätte sie das? Wirklich? Vielleicht hätte sie Diderot ja niemals kennen gelernt, wenn es Malesherbes nicht gegeben hätte, vielleicht hätte sie ihr Dorf dann nie verlassen … Vielleicht, vielleicht, vielleicht …
    Bevor sie entschieden hatte, was sie antworten wollte, begann Sophie zu sprechen. Es geschah ganz von allein.
    »Als Diderot vor zehn Jahren starb«, sagte sie leise, »hat man seinen Leichnam seziert – es war
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