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Die Philosophin

Die Philosophin

Titel: Die Philosophin
Autoren: Peter Prange
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des Jüngsten Gerichts entschieden sein.
    »Amen! Halleluja!«
    Radominsky schlug das Kreuzzeichen, dann stellte er den Folianten zu den übrigen Bänden, die Rücken an Rücken in dem Regal seiner Zelle prangten: das bedeutendste Buch der Menschheit seit der Bibel, das neue Buch der Bücher.
    Was für ein wunderbares, was für ein teuflisches Werk …
    Wozu würde es der Menschheit gereichen?

 
EPILOG
Das Schafott
1794 / Jahr II

1
     
    Eine neue Zeit war angebrochen. Der Sturm der Revolution war über Frankreich hinweggegangen, ein fünf Jahre währendes Wüten und Toben, um das Land in seinen Grundfesten zu erschüttern. Kein Stein sollte auf dem anderen bleiben, bis das Königreich, dessen Herrscher sich jahrhundertelang der Gnade Gottes hatten sicher wähnen dürfen und sie während nur weniger Jahrzehnte im Himmel und auf Erden verwirkten, in den Flammen des Aufruhrs unterging wie die blutrote Abendsonne nach einem allzu langen Sommertag. Das ganze Gebäude der Macht, morsch und faul und verrottet vom Fundament bis zum Dach, brach für immer in sich zusammen, unfähig, dem gewaltigen Sturm der Empörung, der sich im Volk erhoben hatte, noch einen Wimpernschlag länger standzuhalten.
    Ja, der große Krake hatte die Kraft gefunden, sich aus seinem morastigen Bett zu erheben, um sich an Haupt und Gliedern zu erneuern. Die Franzosen hatten den König entmachtet und die Bastille erstürmt, das Staatsgefängnis des alten Regimes und Sinnbild tyrannischer Grausamkeit, hinter dessen dicken, kalten Mauern unzählige Opfer elendig verendet waren, ohne Namen und ohne Recht. Während die Adelsfamilien, ungetreu dem Schwur, den ihre Ahnen dem Herrscher von Frankreich geleistet hatten, in Scharen das Land verließen, um ihre Haut und ihren Besitz vor dem Zorn ihrer ehemaligen Fronleute und Lakaien zu retten, eroberte der dritte Stand die Macht. Die Nationalversammlung, die nunmehr die Gesetze erließ, beseitigte die feudalen Standesrechte, um sie durch angeborene, unantastbare und unveräußerlicheMenschenrechte zu ersetzen, welche fortan die Freiheit und Unversehrbarkeit der Bürger gegen die Willkür des Staates schützen sollten. Die an den Besitz von Grund und Boden gebundenen Privilegien wurden aufgehoben, die Abgabe des geistlichen Zehnten ebenso abgeschafft wie der erbliche Adel, und die Kirchengüter eingezogen, um als Nationalgüter die Wohlfahrt des Volkes zu mehren.
    War also das goldene Zeitalter der Vernunft gekommen? Der Äon der Nächstenliebe und Gerechtigkeit? Das Paradies auf Erden, in dem der Mensch dem Menschen nicht länger ein Wolf, sondern ein Freund und ein Bruder war?
    Wehe, wenn eine Bestie sich ihres Verstandes bedient, um ihre Begierden zu stillen! Die neuen Herrscher im Land hatten Blut geleckt und wollten sich nicht mit der halben Macht begnügen, und als der König versuchte, sein Land zu verlassen wie zahllose Herzöge und Grafen vor ihm, erhob sich eine zweite Welle der Empörung, die noch heftiger war als die erste. Das Volk, angeführt und aufgestachelt von der revolutionären Kommune, in der sich aller Hass und alle Wut, die sich in den Zeiten der Knechtschaft aufgestaut hatten, zur ersten Macht im Staat aufschwang, erstürmte nach der Bastille auch die königlichen Gärten der Tuilerien. Ludwig XVI., längst seiner Allmacht enthoben, wurde seiner letzten Ämter und Würden entkleidet, mitsamt seiner Familie inhaftiert und als »Bürger Louis Capet« wegen Landesverrats zum Tode verurteilt und hingerichtet.
    Die Republik wurde ausgerufen, und um ein Zeichen zu setzen, dass die alte Zeit niemals wiederkehren würde, schaffte der Nationalkonvent den überkommenen Kalender ab und führte eine neue Bemessung der Wochen, Monate und Jahreein. Diese neue Zeitrechnung begann mit der Beseitigung des Königtums am zweiundzwanzigsten September des Jahres 1792. Die Wochen wurden nunmehr in zehn Tage unterteilt, die Tage in zehn Stunden, und sie bekamen wie die Monate allesamt neue Namen. Doch während die Zeit wie ehedem verstrich, nur die Namen der Tage, Wochen und Monate auf den Kalenderblättern wechselten, ging das Morden und Schlachten unter den Menschen weiter wie seit Anbeginn der Zeit. Als hätte es nie eine Revolution der Macht im Staat gegeben, folgten auf das Blutbad am Marsfeld, dem einst Hunderte von Königsgegnern zum Opfer gefallen waren, die noch blutigeren Septembermorde, bei denen Tausende von Königstreuen ihr Leben ließen, folgte auf die Schreckensherrschaft des Ancien Régime
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