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Die Philosophin

Die Philosophin

Titel: Die Philosophin
Autoren: Peter Prange
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besitze, ist schon verladen,mein ganzer Hausrat – meine Möbel, meine Bücher, mein Geschirr.«
    »Mach dir darum keine Sorge! Ich helfe dir, die Sachen wieder abzuladen.«
    Er lächelte sie an. Sie war so überrascht, dass sie nicht wusste, was sie erwidern sollte. Sie hatte doch einen Entschluss gefasst, vor wenigen Minuten war alles noch so klar und einfach gewesen. Und jetzt sollte sie hier bleiben? Was bildete er sich ein? Dass sie ihn liebte? Sie wusste doch, dass die Liebe eine Krankheit war, die wie ein Messer in der Seele wühlte, und wenn man sein Herz verlor, verlor man in Wahrheit nur seinen Verstand – das alles wusste sie, besser als jeder andere Mensch auf der Welt, hatte es schon vor langer Zeit erkannt und gedacht und gefühlt und gesagt … Sollte das plötzlich nicht mehr gelten? Nur weil er sie mit seinen hellen blauen Augen anschaute?
    Wieder traf sie sein Blick, und im gleichen Moment überfiel sie ein so großer Mückenschwarm, dass ihr ganzer Körper zu kribbeln anfing.
    »Bitte schau mich nicht so an!«, sagte sie mit ausgetrocknetem Mund und hoffte zugleich, dass er niemals aufhören würde, sie so anzuschauen.
    »Bleib hier, Sophie, bleib in Paris!« Er stockte, dann sagte er: »Ja, bitte bleib – bei mir.«
    Er hob ihr Kinn, sodass sie ihn anschauen musste. Sein Gesicht war jetzt ganz ernst. Alle ihre Gedanken verstummten; sie dachte weder an den nächsten Tag noch an ihre Reise, weder an Beaulieu noch an Paris. Es gab keine Vergangenheit und keine Zukunft mehr – es gab nur noch diesen Moment, nur noch diese zwei Augen, die wie zwei Sterne zu leuchten schienen.
    So plötzlich, wie es gekommen war, hörte das Kribbeln auf, die Millionen und Abermillionen Mücken ließen von ihr ab, und ihre Verwirrung wich einer klaren, sicheren Ruhe.
    Ohne eine Wort nahm sie seine Hand.
    Es war wie eine Erlösung. Als sie den festen Griff fühlte, mit dem er ihren Händedruck erwiderte, regte sich leise, ganz leise in ihr ein längst vergessenes Sehnen zum ersten Mal seit vielen, vielen Jahren, und alles drängte in ihr danach, diesen Mann zu spüren. Sie schlang die Arme um seinen Hals, und zusammen versanken sie in einem tiefen, langen Kuss, gemeinsam umfangen vom ewigen Rauschen des Flusses, das alle Zeit der Welt in diesem einen Augenblick zu bergen schien.
    Als ihre Lippen sich voneinander lösten, ertönte in der Ferne das Horn eines Postillions.
    »Hör nicht hin!«, sagte er. »Oder wartest du noch auf eine Kutsche?«
    »Nein, Denis«, sagte Sophie. »Aber wenn ich bleibe, dann nur unter einer Bedingung.«
    »Welcher?«
    »Dass du mir versprichst, regelmäßig zum Barbier zu gehen, großer Mongagul.« Sie nahm einen Zipfel ihres Ärmels und wischte die Schaumspuren fort, die wie ein feiner Schnauzbart seine Oberlippe zierten. »Oder rasiert man sich in deinem Märchenreich immer noch nicht?«
    Mit einem zärtlichen Lächeln schüttelte er den Kopf. »Dann hast du dich also entschieden?«
    »Komm«, sagte sie, »gehen wir ins Haus! Ich möchte dir deinen Sohn vorstellen.«

 
INTERIM
Der Heilige Berg
1772

1
     
     
    »Credo in unum Deum. Patrem omnipotentem, factorem coeli et terrae …«
    Im Kloster Jasna Góra, fernab von Paris, fernab von der Welt, riefen die Glocken der kleinen Basilika die Mönche zur Vesper, dem abendlichen Stundengebet. Nur Pater Radominsky, seit sechs Jahren zu Gast auf dem heiligen Berg unweit von Krakau, blieb in seiner Zelle. Gebeugt von der Last des Alters und eines vielgeprüften Lebens, kniete er vor dem Kreuz des Erlösers, um wie jeden Abend den Tag im Gebet zu beschließen, allein in der Zwiesprache mit Gott, seinem Herrn.
»… visibilium omnium et invisibilium. Et in unum Dominum Jesum Christum …«
    Die Zelle war ohne jeden Schmuck: ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl, an den Wänden Bücher und das Kreuz – mehr brauchte er nicht für sein Seelenheil. Er war für immer in seine Heimat zurückgekehrt, zur Schwarzen Madonna von Tschenstochau, und seit er das Gnadenbild, vor dem er ein halbes Jahrhundert zuvor den Eid abgelegt hatte, sein Leben als Soldat der Gesellschaft Jesu Gott und der katholischen Kirche zu weihen, endlich wieder hatte küssen dürfen, wartete er nur noch darauf, mit dem Willen des Allmächtigen zu sterben.
    »… Et expectio resurrectionem mortuorum. Et vitam venturi saeculi …«
    Aus der Ferne war leiser Geschützdonner zu hören. Nein, auch diese Festung Gottes war nicht vor den Angriffen der Welt gefeit, schon seit Tagen stand die
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