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Die Philosophin

Die Philosophin

Titel: Die Philosophin
Autoren: Peter Prange
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schmutzig zu machen, und ihre Begleiter, peinlich darauf bedacht, ihre weißen Wadenstrümpfe nicht zu beflecken, gingen auf Zehenspitzen neben ihnen her, während die Limonadenhändler sich mit ihren Tabletts einen Weg durch das Gewühl zu den Buden der Pastetenbäcker, Wurstmacher und Fleischbrater bahnten und die Straßenhändler den Hausfrauen und Köchen Fisch und Fleisch, Gemüse und Obst anpriesen, mit lauten, gellenden Schreien, um den Lärm der Straßenmusikanten zu übertönen, die fast an jeder Ecke ihren ohrenbetäubenden Lärm produzierten. Nein, die Pariser hatten sich so wenig verändert wie ihre Stadt. Sie wollten nur leben, lieben und glücklich sein – gleichgültig, wer sie gerade regierte.
    Nach drei Stunden Fußmarsch war Sophie am Ziel. Vor dem Gefängnistor versperrten zwei Wachtposten ihr den Weg.
    »Halt! Dein Name?«
    »Bürgerin Volland.«
    Sophie zeigte einen Passierschein vor, Dorval hatte ihn ihr besorgt. Ihr Sohn war ein einflussreicher Mann in der Stadt,die Jakobiner hatten ihn zum Kommissar für Bildung und Erziehung ernannt.
    »Einen Augenblick, Bürgerin.«
    Der ältere der beiden Soldaten verschwand mit ihrem Papier im Inneren des Gebäudes, während der jüngere sie aufmerksam beäugte. Um sich seinen Blicken zu entziehen, trat Sophie ein paar Schritte beiseite und schaute ins Fenster eines Buchverleihers, der sein Geschäft in unmittelbarer Nachbarschaft des Gefängnisses betrieb.
    In der voll gestopften Auslage entdeckte sie zwischen abgenutzten Romanen und zerrissenen Dramen, philosophischen Traktaten, fast unberührten theologischen Werken sowie zahllosen wissenschaftlichen Abhandlungen eine vollständige Ausgabe der Enzyklopädie: siebzehn Textund elf Tafelbände. Die dunkelroten Leinendeckel waren speckig und voller Flecken, abgegriffen von wissbegierigen Menschen, die in all den Jahren die Bände ausgeliehen und aufgeschlagen hatten, um aus diesem schier unerschöpflichen Depot der menschlichen Kenntnisse wieder und wieder zu schöpfen.
    Sophie tat einen Seufzer. Wie hatte dieses Buch ihr Leben verändert … Wie hatte dieses Buch die Welt verändert … Und nun saß der Mann, der es ermöglicht hatte, ohne den es niemals erschienen wäre, in einer Gefängniszelle und wartete auf sie. Auf sie und den Tod, den andere, jüngere Männer, die doch seine geistigen Söhne waren, über ihn verhängt hatten. »Bürgerin Volland?«
    Sophie drehte sich um. Im Gefängnistor stand der ältere Soldat und winkte sie mit ihrem Passierschein herbei.
    »Der Delinquent ist bereit!«

3
     
    Als Sophie die Zelle betrat, stand ein alter fremder Mann vor ihr. Irritiert schaute sie ihn an. Hatte man sie zu einem falschen Gefangenen geführt? In ihrer Verwirrung wollte sie kehrtmachen, da sah sie ein Lächeln in seinen grauen Augen.
    »Danke, dass Sie gekommen sind.«
    Sie zuckte zusammen, als sie seine Stimme hörte. »Monsieur de Malesherbes?«
    Es dauerte eine Weile, bis sie hinter den alten, welken Zügen das vertraute Gesicht wiederfand. Auf einmal begann ihr Herz zu klopfen. Ein Vierteljahrhundert hatten sie einander nicht mehr gesehen, seit dem Tag, an dem er ihr seinen Verrat an ihrer Mutter gestanden hatte.
    »Ich hatte gehofft«, sagte er leise, »Sie würden Ihr Amulett tragen.«
    »Den Engel?«, fragte sie verwundert. »Sie haben immer gesagt, Sie mögen ihn nicht leiden.«
    »Ja, das habe ich. Aber vielleicht hätte er mir jetzt Glück gebracht, auf meiner letzten Reise.«
    »Glück?«
    Malesherbes zögerte. Dann sagte er: »Ich kenne solche Amulette aus meiner Heimat. Man macht sie aus den Gebeinen von Hingerichteten. Ich wollte Sie um den Talisman bitten, als ein letztes Geschenk, um ihn mit ins Grab zu nehmen. Für mein Seelenheil, und …«, fügte er stockend hinzu, »… und um Sie davon zu befreien.«
    Sophie verstand nicht, was er damit meinte. Sartine hatte ihr die Kette geschenkt, er hatte sie aus Beaulieu mitgebracht,nachdem er dort im Kirchenarchiv geforscht hatte. Doch als sie die unendliche Trauer in Malesherbes’ Augen sah, überkam sie eine Ahnung, wie ein kalter Abendhauch, sodass sie plötzlich fröstelte. War das Amulett, das einzige Andenken, das sie an ihre Heimat besaß, dieser Talisman, den sie ein halbes Leben lang auf ihrer Brust getragen hatte, womöglich …? Die Vorstellung war so unerträglich, dass sie sich zwang, den Gedanken nicht zu Ende zu denken. Die Vergangenheit lag so weit zurück. Und die Gegenwart stellte so viele Fragen.
    »Weshalb hat man
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