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Die Philosophin

Die Philosophin

Titel: Die Philosophin
Autoren: Peter Prange
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die Schreckensherrschaft der Jakobiner, jener unbarmherzigen Söhne der Aufklärung, die, um für jahrhundertealtes Unrecht Rache zu nehmen, einen jeden hinrichteten, der ihnen und dem neuen Recht zu widersprechen wagte – mit dem einzigen Unterschied, dass nun das Morden und Schlachten nicht mehr im Namen des allmächtigen Gottes geschah, sondern im Namen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.

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    »Allons enfants de la patrie, le jour de gloire est arrivé …«
    Man schrieb den dritten Floréal des Jahres II, den zweiundzwanzigsten April 1794 nach der alten Zeitrechnung. Eine Horde Schulkinder kreuzte Sophies Weg, als sie das Café »Procope« verließ, wo sie zur Stärkung für den schweren Gang, den sie an diesem sonnigen Frühlingsmorgen antreten musste, eine Tasse Schokolade getrunken hatte. Nachdenklich schaute sie den Kindern nach. Sie sangen die
Marseillaise
, das Lied der Revolution, zu dessen Klängen ihre Väter so viele Menschen töteten. Lernten sie dafür lesen und schreiben?
    Auch Sophie hatte das Lied der Revolution gesungen, beim Marsch der Pariser Frauen nach Versailles, 1789, im Jahr der großen Hungersnot. Tausende von Müttern hatten sich auf den Weg zum Königshof gemacht, und es waren unterwegs immer mehr geworden, in jedem Viertel, in jedem Vorort waren weitere hinzugekommen, um Ludwig zu zwingen, die Stadt mit ausreichend Mehl zu versorgen, damit die Bäcker wieder Brot backen konnten und die Kinder nicht länger hungern mussten. Von welch wunderbaren Hoffnungen die Menschen damals beseelt gewesen waren …
    Und jetzt? In Zweierreihen, wie kleine Soldaten, marschierten die Schüler zum Platz vor der Alten Komödie, wo ein Schafott aufgeschlagen war – in jedem Quartier gab es inzwischen eins, um all die Hinrichtungen zu bewältigen, die das neue Recht der Jakobiner erheischte, und die Lehrer besuchten mit ihren Schülern die schaurigen Stätten, um ihnen ein Beispiel von den Segnungen der Revolution zu geben. Denn die Verurteiltenwurden nicht mehr verbrannt oder gevierteilt wie unter der alten Herrschaft, sondern auf zweckmäßige, wissenschaftliche Weise vom Leben in den Tod befördert, geköpft mit Hilfe eines ausgeklügelten Mechanismus, den ein menschenfreundlicher Arzt namens Guillotin ersonnen hatte.
    An dem Fallbeil klebte noch das Blut der Hinrichtungen vom Vortag. Sophie sah, wie die Schüler unter der Anweisung ihres Lehrers das Gerüst bestiegen, um einer nach dem andern die Richtstätte in Augenschein zu nehmen. Sie selbst hatte als Kind nie eine richtige Schule besuchen dürfen – Abbé Morels Kommunionsvorbereitung war der einzige Schulunterricht gewesen, den sie genossen hatte, vor über fünfzig Jahren. Jetzt hatte jedes Kind in Frankreich die Möglichkeit, lesen und schreiben zu lernen. Was für ein großartiger Fortschritt. Was für eine entsetzliche Barbarei …
    Sophie wandte den Blick von den Kindern ab. Ihr Ziel war das Gefängnis von Port Libre in der Vorstadt Saint-Jacques, unweit des ehemaligen Jansenistenklosters Port Royal, wo über sechshundert Gefangene als Feinde der Republik festgesetzt waren, um auf ihren Prozess oder auf ihren Tod zu warten. Trotz ihrer fünfundsechzig Jahre beschloss sie, den weiten Weg zu Fuß zu gehen. Einer der Inhaftierten hatte sie zu sich gebeten, um sie vor seiner Hinrichtung ein letztes Mal zu sprechen. Bei dem Gedanken an das Wiedersehen wurde ihr Herz so schwer, dass sie am liebsten kehrtgemacht hätte. Doch das war nicht möglich. Auch wenn sie vor langer Zeit beschlossen hatte, diesen Mann nie wieder zu sehen, konnte sie ihm den Wunsch nicht ausschlagen. Es war sein letzter Wille.
    Warum hatte er sie zu sich gerufen? Was wollte er von ihr?
    Bei der Kirche Saint-Germain-des-Prés verließ Sophie denBoulevard, um über die Rue de Rennes weiter in Richtung Süden zu laufen. Unbeschadet von der Revolution hatte der Alltag in der großen Stadt sich kaum verändert. In früherer Zeit hatte Paris
Lutetia
geheißen, die Schlammstadt – ein Name, der, so fand Sophie, immer noch seine Berechtigung hatte. Man konnte sich noch so sehr vorsehen, nichts schützte einen vor den Spritzern aus Dreck, Unrat und Kot, die überall von den Besen der Straßenkehrer und den vorüberrasselnden Karossen aufgewirbelt wurden, sodass nicht wenige Pariser behaupteten, die Schuhputzer seien die wichtigsten Dienstboten der ganzen Stadt. Gepuderte und geputzte Frauen hoben ihre Röcke, um die Straße zu überqueren, ohne die Kleidersäume
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