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Maigret und der verstorbene Monsieur Gallet

Maigret und der verstorbene Monsieur Gallet

Titel: Maigret und der verstorbene Monsieur Gallet
Autoren: Georges Simenon
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Eine lästige Pflicht
    Der erste Kontakt zwischen Kommissar Maigret und dem Toten, mit dem er in den nächsten Tagen auf eine so beklemmend intime Weise zusammenleben sollte, erfolgte am 27. Juni 1930 unter alltäglichen, zugleich aber unangenehmen und unvergeßlichen Umständen.
    Unvergeßlichen vor allem, denn am 27. wurde der König von Spanien zu einem kurzen Besuch in der französischen Hauptstadt erwartet, und die Pariser Kriminalpolizei hatte Weisung erhalten, die nötigen Sicherheitsmaßnahmen zu treffen. Der Chef der Kriminalpolizei nahm gerade an einem Kriminalistikkongreß in Prag teil. Und sein Stellvertreter war zu seiner Familie in die Normandie gefahren, weil eines seiner Kinder plötzlich erkrankt war.
    So mußte Maigret als dienstältester Kommissar sich um alles und jedes kümmern, bei drückender Hitze, mit einem Beamtenstab, der wegen der Ferienzeit auf einen Mindestbestand zusammengeschrumpft war.
    Daß in der Frühe des 27. Juni an der Rue de Picpus die Leiche einer ermordeten Kurzwarenhändlerin entdeckt wurde, machte die Sache auch nicht besser.
    Kurz, um neun Uhr morgens hatten sich alle verfügbaren Inspektoren zur Gare du Bois-de-Boulogne begeben, wo der spanische Souverän erwartet wurde.
    Auf Maigrets Geheiß waren die Türen und Fenster geöffnet worden, und immer wieder schmetterte der Luftzug Türen zu und fegte Papiere von den Schreibtischen.
    Kurz nach neun traf ein Telegramm aus Nevers ein:
     
    Emile Gallet, Handlungsreisender, wohnhaft. Saint-Fargeau, Seine-et-Marne, Nacht vom 25. auf 26. Hôtel de la Loire, Sancerre, ermordet. Begleitumstände rätselhaft. Angehörige zwecks Identifizierung benachrichtigen. Wenn möglich Beamten aus Paris schicken.
     
    Maigret blieb nichts anderes übrig, als selbst nach Saint – Fargeau zu fahren. Dabei hatte er noch vor einer Stunde nicht gewußt, daß fünfunddreißig Kilometer von Paris entfernt ein Ort dieses Namens existierte.
    An der Gare de Lyon mußte er sich erst nach dem nächsten Zug erkundigen. Es war ein Personenzug, der in wenigen Augenblicken abfuhr. Maigret begann zu laufen und konnte mit knapper Not auf den hintersten Wagen aufspringen.
    Das hatte gereicht, ihn in Schweiß ausbrechen zu lassen, denn er war korpulent. Er verbrachte die ganze Fahrt damit, wieder Atem zu schöpfen und sich die Stirne zu trocknen.
    In Saint-Fargeau stieg er als einziger aus. Dann mußte er mehrere Minuten lang auf dem aufgeweichten Asphalt des Bahnsteigs umhergehen, ehe er einen Beamten zu Gesicht bekam.
    »Monsieur Gallet? Ganz am Ende der Hauptallee der Siedlung … Die Villa heißt Les Marguerites, der Name ist angeschrieben. Übrigens ist es das einzige Haus in der Gegend, das schon fertig gebaut ist.«
    Maigret zog die Jacke aus und schob ein Taschentuch unter seinen steifen Hut, um den Nacken zu schützen, denn die »Allee« war etwa zweihundert Meter breit, aber nur in der Mitte begehbar, wo es überhaupt keinen Schatten gab.
    Die Sonne hatte eine trübe kupferrote Farbe. Die Mücken stachen wie wild, was bedeutete, daß ein Gewitter im Anzug war.
    Und weit und breit kein Mensch, der die Gegend belebt und ihm den Weg gewiesen hätte!
    Diese Siedlung war nichts anderes als ein großer Wald, der früher zu einem herrschaftlichen Gut gehört haben mußte. Man hatte sich damit begnügt, ein Netz von geometrischen Straßen anzulegen, die aussahen wie mit einem Rasenmäher aus dem Dickicht geschnitten. Den Straßenrändern entlang verliefen Kabel, die die zukünftigen Villen mit elektrischem Strom versorgen sollten.
    Auf dem Platz vor dem Bahnhof gab es immerhin einen Springbrunnen mit mosaikgeschmücktem Becken. Gegenüber stand eine Holzbaracke mit einem Schild: Büro – Verkauf von Grundstücken. Daneben hing ein Plan, auf dem die öden Straßen schon mit den Namen von berühmten Politikern und Generälen bezeichnet waren.
    Alle fünfzig Meter nahm Maigret das Taschentuch vom Kopf und trocknete sich das Gesicht, dann breitete er es wieder über seinen Nacken, der ihn allmählich zu brennen begann.
    Da und dort sah er angefangene Bauten, rohe Mauern, Bretterverschalungen. Offenbar hatten die Handwerker ihre Arbeit der Hitze wegen im Stich gelassen.
    Er hatte etwa zwei Kilometer zurückgelegt, als er die Villa Les Marguerites erblickte. Das Haus erinnerte entfernt an eine englische Villa. Die Dachziegel waren rot, die Architektur kompliziert. Eine Bruchsteinmauer trennte den Garten von dem Wald, der wohl noch auf Jahre hinaus ein Wald
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