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Der letzte Werwolf

Der letzte Werwolf

Titel: Der letzte Werwolf
Autoren: Brigitte Endres
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Der Fluch
    Das Land liegt öd, der Eissturm fegt.
Im Dorf sich keine Seele regt.
    Die Speicher leer, das Brot sich neigt.
Der Tod still durch die Hütten schleicht.
    Der Graf, den alle Wolko heißen,
des Herz so kalt und hart wie Eisen,
jeden auf den Dorfplatz trieb,
der seine Steuern säumig blieb.
Und ließ ohn' Richterspruch erschlagen,
die Elenden samt ihren Klagen.
Im Schnee ihr Blut zur Schrift gerann:
„Weh Wolko, schändlicher Tyrann!“
    Das Land liegt öd, der Eissturm fegt.
Im Dorf sich keine Seele regt.
    Im Silberkreis des vollen Monds,
steht hoch das Schloss in hellem Glanz.
Musik erklingt, es fließt der Wein,
geladen ist zu frohem Tanz.
    Die Stunden wie im Flug verstreichen.
Doch soll die Lust dem Schrecken weichen,
als media nox, mit einem Mal,
steht jäh ein fremdes Weib im Saal.
    Vom fahrend Volk. Die Augen sprüh'n.
Schwarz ist ihr Haar, die Wangen glüh'n.
Das Lachen tot, die Geigen still.
Wer ist sie? Wer weiß, was sie will?
    „Wolko“, sagt sie zum Grafen hin
und hebt den Arm und zeigt auf ihn.
„Der du aus Gier und Eigensucht,
dem Volk, das Gott dir anvertraut,
nichts lässt, als nur die nackte Haut,
du seist verflucht, ein Wolf zu sein,
der Wolf, der du im Innern bist,
ein Wolf, der seine Kinder frisst!
    Erst wenn der Letzte, der dir nah,
durch deinen Biss sein Ende fand,
wird lösen sich des Fluches Band.
    Auch deine Söhne sei'n beschworen,
weil sie mit deinem Blut geboren.
In jeder neuen Vollmondnacht
ereile sie des Fluches Macht.
Zu Wölfen müssen sie dann werden,
bis sie dereinst durch dich verderben.“
    Die Fremde spricht's und ist verschwunden,
und wie der Fluch ihn hat gebunden,
dem Grafen schwindet stracks der Sinn.
Ihm wächst ein Fell, dann beugt es ihn
auf alle vier. Ein Wolf ist er.
In seinen Augen blanke Gier.
    Die Gräfin, seine treue Frau,
ihr Herz steht still, die Miene grau,
in blut'gem Rausch, die Bestie reißt,
und auch ein Tochterkind noch beißt,
bis auf den Tod.
Der Saal ist rot.
Es flieht, wer kann,
dem Wolfe mit dem Mörderbann.
    Das Land liegt öd, der Eissturm fegt.
Im Schloss sich keine Seele regt.
So sprach die alte Babuschka,
sie war in jenen Tagen da.
Wolkonov, so hieß das Haus,
starb auf des Weibs Verwünschung aus.
    Ljudowik Ulandowitsch (1822–1897)

K APITEL I
    E in Knall zerriss die heilige Stille. Phil fuhr zusammen. Zwei Augenpaare durchbohrten ihn.
    Er wurde rot. „Verdammt, ich hab das Buch nicht mal angefasst!“
    Ein alter Lederband lag aufgeschlagen vor seinen Füßen, einfach aus dem Regal gefallen. Phil hob es auf. Während er den Band nach Beschädigungen absuchte, glitt sein Blick beiläufig über die silberne Prägung, die in den Buchdeckel eingraviert war. Aufatmend stellte er fest, dass das Buch anscheinend nichts abbekommen hatte. Keine der vergilbten Seiten, die in verschnörkelter Handschrift eng beschrieben waren, hatte sich aus der Bindung gelöst.
    „Gib her!“ Dr. Robert Holm, Phils Vater, nahm es ihm aus der Hand. „Du weißt doch, wie empfindlich diese alten Stücke sind!“ Er klappte den kleinen Band vorsichtig zu und hielt ihn unter eine Lampe. Das Symbol auf dem Einband blitzte auf.
    Phil verzog den Mund. Natürlich wusste er, dass man mit den Büchern hier vorsichtig sein musste. Von klein auf hatte er seinen Vater im Stadtarchiv besucht. Er liebte die Atmosphäre in diesen ehrwürdigen Räumen. Die deckenhohen, überquellenden Regale, den unbeschreiblichen Geruch von altem Papier, Leder und Staub. Ein Geruch, der in ihm ein warmes Gefühl von Geborgenheit hervorrief, sooft er hierherkam.
    „Ich kann nichts dafür!“ Phil zuckte mit den Schultern. „Echt nicht, ich schwör's!“ Seine Beteuerung galt auch dem Mitarbeiter seines Vaters, der an einem altertümlichen Bibliothekstisch, hinter einem riesigen Bücherstapel verschanzt, Daten in den Computer eingab.
    „Schon gut!“ Sein Vater nickte erleichtert. „Ist zum Glück nichts passiert.“
    „Ein wertvolles Stück?“, erkundigte sich Phil.
    „Achtzehntes Jahrhundert.“ Dr. Holm betrachtete den Band mit offensichtlicher Verwunderung. „Komisch, ich seh es heute zum ersten Mal.“ Behutsam blätterte er durch die Seiten. „Es muss aus dem Besitz der Gräfin Treuenstein stammen. Eine Handschrift, vielleicht ein Tagebuch, verdammt klein geschrieben.“ Er klopfte die Brusttasche seines Hemdes ab. „Wo ist denn wieder meine Brille?“ Er seufzte. „Wir haben hier wahre Schätze an ortsgeschichtlichen Dokumenten, die noch nie ausgewertet worden sind. Nach dem
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