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Die Philosophen der Rundwelt

Die Philosophen der Rundwelt

Titel: Die Philosophen der Rundwelt
Autoren: Terry Pratchett
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genau wie Narrativium. Nicht nur das: Es wirkt auf die materielle Welt, nicht nur auf die geistige – es hat dieselben Auswirkungen wie Narrativium. Im Allgemeinen steuert unser Geist unseren Körper – manchmal aber nicht, und manchmal geht es andersherum, besonders bei Jugendlichen –, und unser Körper lässt Dinge draußen in der materiellen Welt geschehen. Innerhalb jedes Menschen gibt es eine seltsame Schleife, die wie ein Möbiusband die materielle und die geistige Ebene des Daseins vertauscht.
    Diese seltsame Schleife hat eine merkwürdige Wirkung auf die Kausalität. Wir stehen am Morgen um 7.15 Uhr auf und gehen aus dem Haus, weil wir um neun bei der Arbeit sein müssen. Wissenschaftlich gesehen ist das eine sehr bizarre Form von Kausalität: Die Zukunft beeinflusst die Vergangenheit. Das kommt in der Physik normalerweise nicht vor (außer in sehr esoterischen Quantensachen, aber wir wollen uns nicht ablenken lassen). In diesem Fall hat die Wissenschaft eine Erklärung. Was Sie um 7.15 Uhr aufstehen lässt, ist eigentlich nicht Ihr künftiges Eintreffen bei der Arbeit. Wenn Sie nämlich unter einen Bus geraten und nicht zur Arbeit kommen, sind Sie trotzdem um 7.15 Uhr aufgestanden. Anstelle von rückwärts laufender Kausalität gibt es in Ihrem Gehirn ein geistiges Modell, welches Ihren möglichst genauen Versuch darstellt, den bevorstehenden Tag vorherzusagen. In diesem Modell, verwirklicht in Form schwirrender Elektronen, denken Sie, dass Sie um neun bei der Arbeit sein sollten. Dieses Modell und seine Vorstellung von der Zukunft existieren jetzt , oder genauer gesagt, in der unmittelbaren Vergangenheit. Es ist diese Erwartung, die Sie aufstehen lässt, statt im Bett zu bleiben und noch eine wohlverdiente Runde zu schlafen. Und die Kausalität ist ganz normal: von der Vergangenheit in die Zukunft über Handlungen, die in der Gegenwart stattfinden.
    Das stimmt also. Außer dass, wenn Sie darüber nachdenken, die Kausalität immer noch sehr seltsam ist. Ein paar Elektronen, die auf eine Weise in einem Gehirn herumschwirren, die außerhalb des Gehirns völlig bedeutungslos ist, führen zu einer abgestimmten Handlung eines Proteinklumpens von siebzig Kilogramm. Na schön, so früh am Morgen ist es kein sehr abgestimmter Proteinklumpen, aber Sie verstehen, was wir meinen. Deshalb nennen wir dieses sehr schöpferische Stück Verwirrung eine seltsame Schleife.
    Diese geistigen Modelle sind Geschichten, vereinfachte Erzählungen, die in grober Weise Aspekten der Welt entsprechen, die wir wichtig finden. Beachten Sie dieses »wir«: Alle geistigen Modelle sind von menschlichen Vorlieben und Abneigungen beeinflusst. Unser Geist erzählt uns Geschichten von der Welt, und wir richten einen Großteil unserer Handlungen nach dem aus, was diese Geschichten besagen. In unserem Beispiel ist es die Geschichte von »dem Mitarbeiter, der zu spät kam und entlassen wurde«. Diese Geschichte allein holt uns in aller Herrgottsfrühe aus dem Bett, sogar wenn wir mit dem Chef auf gutem Fuß stehen und uns in dem Glauben wiegen, dass die Geschichte uns nicht betrifft. Mit anderen Worten, wir machen uns unser Bild von der Welt anhand der Geschichten, die wir uns selbst und einander über sie erzählen.
    Auf diese Weise bauen wir auch in unseren Kindern den Geist auf. In Europa und den Vereinigten Staaten wachsen die Kinder mit Geschichten von Pu dem Bären auf, der zum Haus von Kaninchen ging, zu viel Honig aß und beim Hinausgehen im Eingang stecken blieb.* [* Es wäre ein Ausgang gewesen, aber er ging ja nicht hinaus.] Die Geschichte sagt uns, dass wir nicht allzu gierig sein sollen, weil uns schreckliche Dinge zustoßen werden, wenn wir es sind. Sogar das Kind weiß, dass Pu der Bär eine erfundene Gestalt ist, doch es versteht, wovon die Geschichte handelt. Es hört deswegen nicht auf, vom Honig zu naschen, und es fürchtet auch nicht, es könnte in der Tür stecken bleiben, wenn es zu viel zu Mittag gegessen hat und dann aus dem Zimmer gehen will. Die Geschichte handelt nicht von buchstäblichen Interpretationen. Es ist eine Metapher, und der Geist ist eine Metaphernmaschine.
    Die Macht des Narrativiums auf der Rundwelt ist immens. Seinetwegen geschehen Dinge, die man nach den Naturgesetzen niemals erwarten würde. Beispielsweise machen es die Naturgesetze ziemlich unmöglich, dass ein Gegenstand von der Erde plötzlich hoch in den Weltraum springt und auf dem Mond landet. Sie besagen nicht, dass es unmöglich sei, wohl
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