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Die Philosophen der Rundwelt

Die Philosophen der Rundwelt

Titel: Die Philosophen der Rundwelt
Autoren: Terry Pratchett
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aber, dass man wirklich sehr lange darauf warten müsste, bis es geschehen könnte. Dennoch befindet sich eine Maschine auf dem Mond. Mehrere. Sie waren vorher alle hier unten. Jetzt sind sie dort oben, weil sich Leute vor Jahrhunderten romantische Geschichten über den Mond erzählten. Der Mond war eine Göttin, die auf uns herabschaute. Als Vollmond bewirkte sie, dass sich Menschen in Wölfe verwandelten. Schon damals konnten die Menschen ziemlich gut zweigleisig denken; der Mond war offensichtlich eine große silberne Scheibe, aber zugleich eine Göttin.
    Allmählich wandelten sich diese Erzählungen. Plötzlich war der Mond eine andere Welt, und wenn wir Schwäne einspannten, konnten wir mit einem Wagen hinfliegen. Dann (wie Jules Verne vorschlug) konnten wir in einem großen Hohlzylinder hingelangen, abgefeuert von einer riesigen Kanone in Florida. In den sechziger Jahren schließlich fanden wir die richtige Art Schwan (flüssigen Sauerstoff und Wasserstoff) und die richtige Art Wagen (etliche Millionen Tonnen Metall) und flogen zum Mond. In einem Hohlzylinder, der in Florida gestartet wurde. Es war nicht direkt eine Kanone. Nun ja, in einem grundlegenden physikalischen Sinne war es schon eine; die Rakete war eine Kanone und flog selbst los, indem sie statt eines Geschosses verbrannten Treibstoff verschoss.
    Wenn wir uns keine Geschichten vom Mond erzählt hätten, hätte es überhaupt keinen Zweck gehabt hinzufliegen. Ein interessanter Anblick vielleicht … aber von dem Anblick »wussten« wir nur, weil wir uns wissenschaftliche Geschichten über Bilder erzählt hatten, die von Raumsonden zurückgefunkt worden waren. Warum sind wir hingeflogen? Weil wir uns seit mehreren hundert Jahren erzählt hatten, dass wir es tun würden. Weil wir es unvermeidlich gemacht und in die »Zukunftsgeschichten« von sehr vielen Menschen eingebaut hatten. Weil es unsere Neugier befriedigte und weil der Mond auf uns wartete. Der Mond war eine Geschichte, die auf ihren Schluss wartete (»Der erste Mensch landet auf dem Mond!«), und wir sind hingeflogen, weil die Geschichte es verlangte.
    Als sich der menschliche Geist auf der Erde entwickelte, entwickelte sich parallel zu ihm eine Art Narrativium. Anders als die Scheibenwelt-Version von Narrativium, die auf der Scheibe ebenso wirklich ist wie Eisen oder Kupfer oder Praseodym, ist unsere Version rein geistig. Es ist ein Imperativ, doch der Imperativ ist nicht zu einem Ding reifiziert worden. Dennoch besitzen wir die Art Geist, die auf Imperative reagiert und auf vieles andere, was kein Ding ist. Und so haben wir das Gefühl , unser Universum werde von Narrativium in Gang gehalten.
    Es gibt hier eine merkwürdige Resonanz, und »Resonanz« ist entschieden das passende Wort. Die Physiker erzählen eine Geschichte, wie im Weltall Kohlenstoff entsteht. In bestimmten Sternen gibt es eine spezielle Kernreaktion, eine »Resonanz« zwischen benachbarten Energieniveaus, die der Natur einen Zwischenschritt von leichteren Elementen zu Kohlenstoff liefert. Ohne diese Resonanz, besagt die Geschichte, hätte kein Kohlenstoff entstehen können. Nun enthalten die Gesetze der Physik nach unserem gegenwärtigen Kenntnisstand mehrere »Fundamentalkonstanten« wie die Lichtgeschwindigkeit, das Planck’sche Wirkungsquantum der Quantentheorie und die Elementarladung des Elektrons. Diese Zahlen bestimmen die quantitativen Beziehungen innerhalb der physikalischen Gesetze, doch jede Kombination von bestimmten Werten für die Konstanten bringt ein potenzielles Universum hervor. Die Art, wie sich ein Universum verhält, hängt von den tatsächlichen Zahlenwerten in seinen Gesetzen ab. Nun ist Kohlenstoff ja ein wesentlicher Bestandteil allen bekannten Lebens, und so läuft dies auf eine schlaue kleine Geschichte hinaus, die das Anthropische Prinzip genannt wird: dass es nämlich albern wäre, wenn wir fragen würden, warum wir in einem Universum leben, dessen physikalische Konstanten jene Kernresonanz ermöglichen – denn wenn dem nicht so wäre, gäbe es keinen Kohlenstoff und folglich auch uns nicht – und wir könnten nicht danach fragen.
    Die Geschichte von der Kohlenstoff-Resonanz ist in vielen Büchern über die Wissenschaft zu finden, denn sie erzeugt einen mächtigen Eindruck von einer verborgenen Ordnung im Universum und scheint so viel zu erklären. Wenn wir sie aber ein wenig näher betrachten, sehen wir, dass sie ein anschauliches Beispiel für die verführerische Macht einer spannenden, aber
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