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Die Pestspur

Die Pestspur

Titel: Die Pestspur
Autoren: Bernhard Wucherer
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verdauen. Er wusste zwar, dass es nicht in der Befugnis des Kastellans lag, eine Ächtung allein auszusprechen, da hierzu ein ›Achturteil‹ von einem ordentlichen Gericht gefällt werden musste. Er wusste aber auch, dass Dreyling von Wagrain in jenem Gremium saß, das diese Urteile verhängte und dass dessen Wort zudem Gewicht hatte. Vor allen Dingen aber war ihm klar, was es hieß, geächtet zu sein. Er wäre von heute auf morgen vogelfrei – jeder könnte ihn jagen, wenn das Achturteil nicht in eine gnädigere Landesverweisung umgewandelt würde, was auch noch Strafe genug wäre. Alle, die über ihn Bescheid wussten, könnten ihn mit Steinen bewerfen, mit Füßen treten und vertreiben, ohne dass er sich dagegen wehren dürfte. Sollte er dabei ›versehentlich‹ zu Tode kommen, würde dies nur diejenigen interessieren, die seine Schuhe und seine Kleider brauchen konnten. So weit durfte er es nicht kommen lassen. Eine diesbezügliche Verhandlung würde in der Residenzstadt geführt werden, fuhr es ihm durch den Kopf. Und dort kennt man mich nur allzu gut, insbesondere, wenn ich keinen Bart mehr trage. Wegen der Gefahr der Übertragung von Läusen hatten Angeklagte vor Gericht kahl geschoren und glatt rasiert zu erscheinen, oder sie wurden von einem der Henkersknechte geschoren – und der würde sicherlich nicht sanft mit ihm umgehen. Was sollte er also tun? Ihm blieb keine andere Wahl, als das auszuführen, was er ohnehin längst geplant hatte: Er würde das Angebot seines Gegenübers annehmen und von seinem Amt als Ortsvorsteher zurücktreten, aber nicht ohne einen Vorteil herauszuschinden. Um noch an ein ›Wegegeld‹ zu kommen, jammerte er dem Kastellan vor, er müsse doch von irgendwas leben. Er bräuchte eine Arbeit, wenn er sich selbst ernähren solle. Und woher sollte er diese bekommen? Ich habe doch nur Bibliothekar gelernt, und eine Amtsstube, geschweige denn ein Scriptorium wird mich sicher nicht aufnehmen. Zu groß ist die Gefahr, dass ich erkannt werde, dachte er, während er laut stöhnte. »Arbeit gibt es am ehesten in einer der Handelsstädte; vielleicht wieder in Ravensburg, dort kenne ich mich aus«, log er. »Oder in Lindau? Vielleicht auch im österreichischen Bregenz, oder in Dornbirn. Aber um dorthin zu gelangen, muss ich reisen, und das kostet Geld … viel Geld!«
    »Ich weiß nicht, was am Reisen so teuer sein soll? Ihr nennt doch ein Pferd Euer eigen«, schnarrte der Kastellan listig zurück. Aber der Ortsvorsteher winkte ab.
    »Das Ross hat mir nicht gehört. Ich habe es mir nur ausgeliehen und es bereits wieder zurückgegeben«, kam prompt die verlogene Antwort.
    Da der Kastellan nicht wusste, dass Ruland Berging den Schimmel zum Moosmannbauern gebracht hatte, um ihn auf dessen außerhalb des Dorfes gelegenen Hof zu verstecken, glaubte er ihm zwar, blieb aber, was einen ›Reisekostenzuschuss‹ anbelangte, stur.
    Während der Ortsvorsteher dem Kastellan weiter vorjaulte, was er doch für ein beklagenswerter Tropf sei, dem Unrecht widerfahren war, der sich dennoch dem Willen des Kastellans und der Allgemeinheit beugen würde, sofern er die finanziellen Mittel für eine Reise hätte, hörten sie leise vom Dorf her die Glocke der St. Martins-Kapelle klingen. Als kurz darauf auch noch das Armesünderglöckchen vom Nordwesttürmchen des Schlosses in den Raum drang, ahnte Ulrich Dreyling von Wagrain, wem das traurige Gebimmel galt. Es verkündete den Tod des altgedienten Leichenbestatters Jodok Leising.
    »Auch das noch!«, entfuhr es ihm, während er sich bekreuzigte. Dabei kam ihm der von Ruland Berging insgeheim herbeigesehnte Gedanke gerade recht. Der Kastellan sah den Ortsvorsteher lange an, bevor er sprach: »Was wäre, wenn Ihr den vakanten Posten des Leichenbestatters übernehmen würdet? Immerhin bekämet Ihr für die Beerdigung jeder Leiche einen halben Gulden von den Hinterbliebenen … und Ihr könntet zumindest vorübergehend im Amtshaus wohnen bleiben.«
    Da der Kastellan für einen Moment sein Gesicht in den Händen vergrub, merkte er nicht, dass Ruland Berging zufrieden grinste, nachdem er dies gehört hatte. Meine Rechnung geht auf – ich muss nicht weichen, sondern werde stattdessen Totengräber. Jetzt kann ich endlich das Geschäft ankurbeln, freute sich der raffinierte Hund still in sich hinein. Der Kastellan deutete Ruland Bergings Verhalten als ernsthaftes Nachdenken, er gestand ihm Bedenkzeit zu und machte sich seine eigenen Gedanken über die Zukunft. Immerhin
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