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Die Pestspur

Die Pestspur

Titel: Die Pestspur
Autoren: Bernhard Wucherer
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Wollfaser mit dem Anfangsfaden zu verbinden und die Trete gleichmäßig zu drücken, um das Rad in Schwung zu halten. Wie immer wollte sie damit einen schönen starken Faden spinnen. Und, wie immer, wollte ihr dies auch heute nicht gelingen, wie es ihr überdies nie mehr gelingen würde. Aber es war die einzige Arbeit, zu der die brave Frau überhaupt noch in der Lage war. Schon vor langer Zeit war es ihr unmöglich geworden, mit Kardätsche und Kardbrettchen die lästigen Knötchen aus der verfilzten Schafwolle zu entfernen. Mittlerweile bereitete ihr sogar das einfache Kämmen der Wolle Schmerzen. Daran, dass sie einmal am Webstuhl schneller als ihr Mann gewesen war, konnte sie sich kaum noch erinnern. Es würde auch nichts nützen, denn seit ein paar Jahren konnte sie nicht einmal mehr alle Arbeitsgänge, die am Spinnrad zur Herstellung von Wollfäden nötig waren, ohne die Hilfe ihrer Männer ausführen, geschweige denn den Webstuhl bedienen.
    Als der alte Bäcker sich dem Anwesen der Hennes näherte, war Melchior gerade dabei, etliche Leinenstoffe, die er gestern auf dem Markt nicht hatte verkaufen können, auszuschütteln und für den Transport zum Färberhaus zusammenzulegen. Den kleinen, dicken Mann mit der fleckigen weißen Schürze bemerkte er erst, als ihm dieser auf die Schulter klopfte.
    Melchior drehte sich um und lachte. »Ich grüße Euch, Herr Föhr! Was veranlasst einen Bäcker schon zu vormittäglicher Stunde zu einem Spaziergang?« Melchior blickte zum Himmel. »Und dies auch noch bei düsterem Wetter.«
    Aber Conrad Föhr schien nicht der Sinn nach einem Späßchen zu stehen, und die Wetterlage war ihm egal. Wegen des Lärms zog er den jungen Leinweber etwas vom Haus weg und stellte sich auf die Zehenspitzen.
    »Ich suche mein Weib! Hast du es irgendwo gesehen?«, trötete er Melchior feucht ins Ohr.
    Der junge Weber merkte zwar, dass mit dem ansonsten keinem Scherz abgeneigten Bäcker etwas nicht stimmte, konnte ihm aber nicht helfen und nur den Kopf schütteln, während er sein Werkzeug in die andere Hand nahm, um diskret sein Ohr abwischen zu können.
    »Vielleicht wissen meine Eltern, wo Eure Frau ist«, sagte er und legte dem verzweifelt wirkenden Mann beruhigend die Hand auf die Schulter, während er ihn zum Haus geleitete. »Es passt gut, dass Ihr uns besucht. Mutter kann sowieso gerade eine Pause brauchen«, versuchte Melchior den unglücklich wirkenden Bäcker aufzumuntern, obwohl er wusste, dass sie mit ihrer Arbeit gerade erst begonnen hatte. Melchior drückte ihn sanft auf das Kogebänkle und lächelte ermutigend. »Wartet hier!«
    Einen Moment später herrschte im Inneren des Hauses Stille. Das Schiffchen hatte aufgehört zu surren, und das Spinnrad schnurrte ebenfalls nicht mehr. Gleichzeitig hörten die aus der Tür stiebenden Flusen auf, im bescheidenen Licht der Ölfunzeln herumzutanzen. Man konnte nur noch das müde Schlurfen von Füßen hören.
    Melchiors Eltern traten vors Haus und rieben sich die Augen, die sich aufgrund des trüben Wetters nicht erst an die Helligkeit gewöhnen mussten. Freundlich begrüßten sie den Nachbarn und setzten sich zu ihm auf die grün gestrichene Holzbank. Kaum saßen die beiden, kam der Leinweber zur Sache: »Melchior hat uns gesagt, dass du deine Barbara suchst. Wir haben sie heute noch nicht gesehen«, bekundete er, was seine Frau durch heftiges Nicken zu bestätigen versuchte.
    Bevor der Bäcker etwas sagen konnte, kam Melchior mit einem Krug honiggesüßten Wassers heraus.
    »Hier! Das wird Euch sicherlich gut tun«, sagte er, hielt seinem Vater und dem Bäcker die Becher hin, bevor er seiner Mutter sanft ihr spezielles Trinkgefäß in die verkrüppelten Hände drückte. Bevor er sich selbst auf einen Melkschemel setzte, schenkte er allen ein und brach die Stille: »Nun erzählt, was ist mit Eurer Frau?«
    Drei Augenpaare schauten den pausbäckigen Nachbarn ermunternd an. Dennoch schien er irgendwie nicht in der Lage zu sein, etwas zu sagen. Er zögerte, nippte am Becher, schüttelte sich krampfhaft und begann zu weinen.
    »Na, na, na. So schlimm wird’s schon nicht sein«, tröstete ihn die Weberin und bemühte sich, ein Tuch aus ihrer Schürze zu ziehen, was aber nur mit Hilfe ihres Sohnes gelang. Melchior drückte den Lappen, der offensichtlich schon so einiges mitgemacht hatte, dem Bäcker in die Hand. Er schnäuzte hinein und fuhr sich damit übers Gesicht, bevor er ihn zurückgab. Als wollte er seine Stimme ölen, trank er den Becher
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