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Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied

Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied

Titel: Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied
Autoren: Alison Croggon
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Jedes Antlitz schien sich Hem ins Gedächtnis zu brennen, auf dass er niemanden je vergessen würde, den er an sich vorbeischreiten sah.
    Dann stockte ihm der Atem, und er schluchzte. Zelika kam langsam auf ihn zu, und als er sie erkannte, rief er voll schmerzlicher Überraschung ihren Namen. Sie blickte ihm mit nüchternem Erkennen unmittelbar ins Gesicht, sagte jedoch nichts.
    Dann neigte auch sie das Haupt und ging wie all die anderen an ihm vorbei. Da begriff Hem, dass der endlose Strom der Menschen die Toten waren, die Sharma zu verantworten hatte, all jene Leben, die in seinen Kriegen ausgelöscht worden waren. Er wusste, dass Maerad andere Menschen erkannte: Als berührte er sie, spürte er, wie ihr Körper vor Gefühlen vibrierte wie die Saite einer Harfe. Er kannte die Namen, die sie aussprach - Dernhil, Dharin -, dann jedoch folgte einer, den er noch nie gehört hatte. Ilar. Maerad streckte den Arm aus und sagte etwas so leise, dass Hem es nicht verstand, und wenngleich er nicht hinschaute, wusste er, dass Maerad weinte.
    Dann sah er in die Gesichter zweier Menschen, die vor ihn traten, eines großen Mannes und einer Frau, die mit ernsten Mienen seinem Blick begegneten, und er begriff, dass dies der einzige Anblick seiner Mutter und seines Vaters war, der ihm je vergönnt sein würde; ob der Erkenntnis hatte er das Gefühl, als zerbräche etwas in ihm. Und immer noch kamen die Toten heran in dieser Blase der Zeit, die kein Ende zu nehmen schien, und Hem betrachtete das Gesicht jedes Einzelnen. Irgendwann jedoch wurde der Tross lichter und verebbte; die Musik erklang erneut, und er stand mit steinigem Boden unter den Füßen im Moor. Der Mond hatte sich über den schwarzen Horizont erhoben, und der silbrige Pfad war verschwunden.
    Maerad wandte sich ihm zu, die Züge strahlend vor einer Freude, die er nicht verstand, wenngleich an ihren Wimpern Tränen glitzerten.
    »Die Toten verlangen Rechenschaft«, sagte sie. »Und jene, die ich getötet habe, vergeben mir. Oh, Hem, mir wurde vergeben.«
    Hem nickte. Er verstand nicht, wovon Maerad redete, und wagte selbst nicht, zu sprechen.
    In jenem Augenblick wurde Hem bewusst, dass etwas sie beobachtete. Die Haut in seinem Nacken kribbelte ob der Vorahnung einer Bedrohung, als zielte ein Bogenschütze mitten auf Hems Rücken, und er hatte das Gefühl, als ob die Luft selbst sich um ihn verdichtete und ihn erstickte.
    »Lass dir nichts anmerken«, flüsterte Maerad und hob ihre Leier an. »Jetzt, Hem. Jetzt!«
    Hem bückte sich hastig und schlug die Stimmgabel an einem Stein zu seinen Füßen an. Zunächst gab sie keinen Laut von sich, dann jedoch erscholl der Ton süß und klar durch die kalte Luft. In dem Augenblick, als die Stimmgabel zu schwingen begann, traf ihn etwas mit einer Kraft, die ihn zu Boden riss, und er ließ die Gabel beinah fallen.
    Er hörte Maerads Stimme scharf und ungeduldig über dem anschwellenden Ton, der nun begann, die ganze Welt zu erfüllen. Plötzlich klang sie wie seine Schwester, nicht wie das seltsame ferne, gequälte Wesen, das er in den vergangenen Tagen erlebt hatte.
    »Um des Lichts willen, Hem, lass sie nicht fallen!«, rief sie. »Halt sie fest, wenn dir dein Leben lieb ist!«
    Abermals erfolgte ein Hieb, dann ein weiterer. Ein Instinkt verriet Hem, dass dies nur ein gedämpfter Angriff war, dass ihn etwas vor einer Kraft abschirmte, die ihn andernfalls so mühelos zerquetscht hätte, als wäre er eine der winzigen Spinnen, die ihre Netze im Katenmoor ausbreiteten. Wankend mühte er sich auf die Beine. Ein gewaltiger Druck lastete auf seinen Ohren. Hem umklammerte die Stimmgabel mit beiden Händen und hob sie hoch über den Kopf. Sie gleißte so strahlend, dass er die Knochen in seinen Händen durch die rosige Schicht des Fleisches sehen konnte. Aus dem Augenwinkel erspähte er, dass Maerads Leier mit demselben Licht erglühte. Sie hob das Instrument im Arm an, brachte die linke Hand in Anschlag und wartete auf den richtigen Augenblick. Es war eine Hand aus Licht, eine Hand, die nicht verstümmelt war, und bei dem Anblick fasste Hem Mut, denn ihm schien in jenem Augenblick, dass sie nie verwundet worden war, die Finger nie verloren hatte, dass all die schrecklichen Dinge, die ihnen beiden widerfuhren, nur ein Traum gewesen waren, aus dem sie nun erwachen würden, für immer heil.
    Der Ton, der durch die Luft hallte, schwoll an und wuchs, und Hem erkannte voll Grauen und Freude zugleich, dass die Stimmgabel jene Musik geweckt
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