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Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied

Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied

Titel: Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied
Autoren: Alison Croggon
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Morgendämmerung erleben würden.
    Gemeinsam beobachteten sie, wie die Sonne hinter schwarzen Wolkenbänken unterging. Sie warf ein rötliches Licht über das Moor, sodass es in Blut getaucht wirkte, und Hem schauderte. Langsam floss das Licht aus dem Himmel, und die Stille ringsum vertiefte sich. Maerad zeichnete sich einige Schritte entfernt als undeutliche Gestalt ab, reglos wie ein Standbild. Uber ihnen klarte der Himmel auf, und die Sterne erwachten nacheinander zum Leben, bis silbrige Lichtpunkte das dunkle Gefilde der Nacht sprenkelten. Die Welt hielt den Atem an. Es herrschte völlige Stille.
    Ihrer aller Augen hefteten sich auf den Horizont, wo bald ein fahler Schimmer das Aufgehen des Mondes über den fernen Gipfeln der östlichen Berge ankündigte. Cadvan schaute zu Hem. »Ich glaube, es ist Zeit«, sagte er sanft.
    Hem nickte. Mit zitternden Händen hob er sich die Kette über den Kopf und nahm die Stimmgabel in die Hand. Dann umarmte er seine Freunde nacheinander, Saliman zuletzt. Die warmen, starken Arme des dunkelhäutigen Barden fühlten sich wie ein letztes Bollwerk an, und ihn loszulassen erschien Hem wie ein Fall in eine Dunkelheit, deren Tiefe er nicht zu erahnen vermochte. Letztlich jedoch trat er zurück und holte tief Luft. Der Vollmond war soeben über dem Rand der Welt zum Vorschein gekommen.
    »Also gut«, sagte er.
    Auf wackeligen Beinen ging Hem zu Maerad hinüber. Doch ob-schon sein Körper zitterte, blieb etwas in ihm hart und seiner Sache gewiss. Er fürchtete sich mehr als je zuvor in seinem Leben; trotzdem wusste er, dass seine Angst ihn nicht davon abhalten würde zu tun, was getan werden musste. Die Zeit für Ängste und Zweifel war vorbei. Sobald er sich von seinen Freunden abwandte, vergaß er sie; es war, als wäre ein Vorhang zwischen sie gefallen. Es fühlte sich an, als hätte die Zeit selbst auf ihn und Maerad gewartet, seit sie aus dem Ei des Kosmos geschlüpft war, dass alle Vergangenheiten und alle Zukünfte sich in diesem einen Augenblick kreuzten.
    Als er Maerad erreichte, legte er ihr die Hand auf die Schulter. Sie drehte sich zu ihm um und lächelte, und einen Lidschlag lang ließ jenes Lächeln Hems Eingeweide vor Angst schrumpfen: Es war entrückt und wild, kalt wie die Stürme des Winters, ein Lächeln, das ein Herz erfrieren lassen konnte.
    »Wir brauchen nicht lange zu warten, mein Bruder«, sagte Maerad. »Sieh nur, der Mond ist ungeduldig, er steigt schnell über die Welt auf.«
    Hem beobachtete, wie der Mond sich über den Horizont erhob. Er wirkte riesig, größer, als er ihn je gesehen hatte. Als er über den Rand der Welt empor kletterte, ergoss sein Licht sich als heller Strom über das Moor, erfasste die Fäden Millionen winziger, mit Tauperlen behafteter, zwischen Halmen gespannter Spinnennetze, sodass Hem der Eindruck beschlich, vor ihm erstrecke sich ein Pfad silbriger Wogen, auf dem er mühelos zur Schwelle des Mondes selbst laufen könne. Und als der helle Pfad seine Füße erreichte, vernahm er eine hohe, wunderschöne Melodie, die ihm ins Herz drang, und in jenem Augenblick schien ihm, dass er und Maerad aus der Zeit gehoben wurden, und der schimmernde Pfad aus Sternen bestand wie der Lukemoi, wo die Toten angeblich auf ihrem Weg zu den Toren wandelten. Während ihm dies durch den Kopf ging, erkannte er, dass die Straße aus Licht nicht leer war. Aus der Silberscheibe des Mondes löste sich, als wäre er eine Tür zu einer anderen Welt, eine große Menschenmenge, die feierlich den schmalen Pfad entlang durch die Dunkelheit auf Hem und Maerad zuschritt. Hem sog scharf die Luft ein und stellte fest, dass er zitterte, wenngleich nicht vor Angst, sondern vor Ehrfurcht und Erstaunen.
    Bald trafen die Ersten bei ihnen ein; sie blickten unverwandt in Maerads und Hems Augen, dann neigten sie die Häupter, gingen hinter ihnen in die dunkle Nacht und verschwanden. Ihre Gesichter waren ausdruckslos, weder glücklich noch traurig, doch als sie vorüberzogen, wurde Hems Herz schwerer und schwerer, als lastete unermesslicher Kummer auf ihm. Er sah Menschen jeden Alters, hässlich und wunderschön jung und alt, Mütter mit Säuglingen an den Brüsten, kleine Kinder an den Händen ihrer Eltern, ein Gesicht ums andere, und in dem kurzen Augenblick, den er sie betrachtete, erkannte er in jedem die Geschichte des jeweiligen Lebens, die zerbrechlichen Hoffnungen, die leidenschaftlichen Sehnsüchte, die unmöglichen Träume, und gleichzeitig das Ende all dieser Dinge
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