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Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied

Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied

Titel: Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied
Autoren: Alison Croggon
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wäre verwundbar. Sie spürte, wie sich die Gewalt seiner kalten Wut in den sich verfinsternden Schatten rings um sie scharte, und wusste, dass auch er sie fürchtete und wie jedes in die Enge getriebene, verzweifelte Tier dann am gefährlichsten war, wenn er Angst hatte. Hem fühlte sich nach dem Essen etwas besser. Wenngleich man den Eintopf aus Dörrfleisch und Hülsenfrüchten kaum als leckere Mahlzeit bezeichnen konnte, war er warm und nahrhaft, füllte ihm den Magen und hielt die Übelkeit in Grenzen, die in Abständen wie ein Schwall durch seinen Körper wogte.
    Als die Sonne am Himmel sank, stellte er fest, dass er die Stimmgabel unangenehm wahrzunehmen begann; sie vibrierte an seiner Haut, als wäre sie ein lebendiges Wesen. Seit dem Hohlen Land hatte er sie völlig vergessen; die Stimmgabel war nur ein Stück Metall neben dem Stoffbeutel gewesen, den er stets um den Hals trug. Nun erinnerte er sich daran, dass dieser Gegenstand Jahrtausende um den Hals des Namenlosen gehangen hatte, dass er an genau diesem Ort von Nelsor angefertigt worden war. Und dass die winzigen, in seine stumpfe Oberfläche geritzten Runen das Geheimnis des Baumlieds bargen und vielleicht auch den Schlüssel zu dem Bindungszauber, durch den der Namenlose in die Ränge der Unsterblichen aufgestiegen war und der ihm seine Macht verlieh… Kaum war ihm der Gedanke durch den Kopf gegangen, versuchte Hem, ihn wieder zu vergessen. Nachdem er mit Saliman gesprochen hatte, war er ziemlich sicher gewesen, dass die Gegenwart, die seinen Geist verdunkelte, die seine Schritte mit Abscheu erfüllte und die garstige Übelkeit in seinem Bauch verursachte, der Namenlose war. Hem konnte die Überzeugung nicht abschütteln, dass es Unglück brachte, nur an ihn zu denken; zugleich jedoch fiel es ihm äußerst schwer, an etwas anderes zu denken. Unwillkürlich blickte er über die Schulter in Richtung Süden, als könnte er Sharma auf sie zureiten sehen, auf einem riesigen Rappen, der Feuer durch die Nüstern schnob, gefolgt von einer Armee aus Werwesen und Untoten.
    Was er stattdessen sah, waren die trostlosen Weiten des Katenmoors, die sich unter den Schatten des Abends verfinsterten. Die Gegend wirkte völlig leblos: Es kreisten keine Vögel am Himmel, um auf Insekten herabzustoßen; kein Wild huschte unruhig durch den Wind; keine Wühlmaus, kein Kaninchen, nicht einmal die flüchtigen Schemen der Toten regten sich am Rand seines Sichtfelds. Zwar stöhnte der Wind durch das Schilf und die Segge des Moors, abgesehen davon jedoch hörte er nichts: keine trällernden Sumpfvögel, keinen Brachvogel, der seinen einsamen Ruf ausstieß. Eine große Stille lag wie lähmende Angst über der Landschaft.
    Er wird nicht auf einem Pferd eintreffen, dachte Hem und schalt sich für seine Einbildung. Sein Körper weilt in Dagra. Aber Saliman hat recht: Er jagt uns. Er weiß, dass wir ihn vernichten wollen. Er kommt näher und näher. Vielleicht hört er sogar meine Gedanken, und vielleicht locken sie ihn hierher …
    Er schaute zu Maerad. Während sie gekocht und gegessen hatten, hatte Maerad reglos am Rand des Sumpfes gestanden, eine winzige Gestalt unter dem riesigen Himmelsgewölbe. Der Kummer und die Schmerzen, die sie während der Durchquerung des Moores gepeinigt hatten, schienen ihr nicht mehr zuzusetzen; ihre Miene wirkte ruhig. Hem erschien ihr zierlicher Leib so viel Macht zu beherbergen, dass Maerad gewaltig wirkte: Ihr Schatten erstreckte sich von der im Westen versinkenden Sonne weg wie die Ehrfurcht gebietende Dunkelheit eines Berges. Zum ersten Mal verspürte Hem einen Anflug von Angst vor ihr. Mittlerweile ging Maerad über sein Verständnis hinaus, über jede einfache Verwandtschaft. Er wusste nicht mehr, wer sie war.
    Der Junge richtete den Blick wieder auf seine drei anderen Gefährten. Sie alle kauerten dicht am kleinen Feuer und versuchten, etwas von der flüchtigen Wärme abzubekommen, bevor sie verweht wurde. Alle waren von der Reise schmutzig und vor Erschöpfung ausgezehrt. Hekibel und Saliman saßen sehr nah beisammen, und Hem sah, dass Saliman Hekibels kleine Hände zwischen die seinen genommen hatte und festhielt. Cadvan hockte ein wenig abseits, die Augen auf Maerad geheftet, die Züge unergründlich. Niemand sprach viel, und wenn überhaupt, dann über unbedeutende Dinge. In Wahrheit schien es wenig zu sagen zu geben. Sie alle wussten, dass sie vor einem Abgrund standen, und niemand von ihnen vermochte zu sagen, ob sie die nächste
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