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Die niederländische Jungfrau - Roman

Die niederländische Jungfrau - Roman

Titel: Die niederländische Jungfrau - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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unbewegte Haltung, Blick auf unendlich.
    »Heinz, wo warst du«, rief von Bötticher von weitem. »Das Tor muß geölt werden. Ich bekomme es bald nicht mehr zu. Wo ist Leni?«
    Der Gnom gab sich einen Ruck, nahm mir den Koffer aus der Hand und räusperte sich. »Im Bett. Machen Sie sich keine Sorgen, sie hat versprochen, noch vor dem Mittagessen wieder auf den Beinen zu sein.«
    »Das ist Janna, die neue Schülerin. Du erinnerst dich an die Geschichte?«
    »Ich kann Tee machen«, sagte Heinz, sah mich aber dabei nicht an.
    »Bring das Mädchen nach oben. Ich möchte heute mal nicht gestört werden.« Und plötzlich, mit einem Lächeln: »Außer von euch!«
    Er meinte den Bernhardiner und einen kleineren Hund, die in der Eingangsdiele auf ihn gewartet hatten. Auf seine freudigen Gebärden hin fingen sie an, heftig zu schwänzeln. Wenigstens etwas. Obwohl wir daheim keine Hunde hatten, machten sie einen vertrauten Eindruck. Ihre Sprachlosigkeit ist es, die uns die Tiere so wenig fremd erscheinen läßt. Der große ließ sich kurz streicheln, rannte dann aber in den Garten, wo er mit beiden Vorderpfoten auf den Boden zu klopfen begann, um Herrchen zum Spielen zu bewegen. Ich blieb mit Heinz zurück. Er mußte etwas loswerden: »Wir haben hier noch kein Telefon.« Er zeigte mit ausgestrecktem Finger nach draußen. »Die Drähte laufen entlang der Hauptstraße nach Norden und machen einen Bogen um uns. Im Dorf steht schon an jeder Straßenecke ein Mast, aber dem Chef ist das egal. Hier lassen sich nicht viele Menschen blicken. Das müssen Sie wissen. Abgesehen vom Schlachter und den Studenten bekommen wir hier nie Besuch.«
    Die Uhr in der Diele war stehengeblieben. Später sollte ich merken, daß es auf Raeren viele Uhren gab, die nicht liefen, und Schränke, in denen nichts aufbewahrt wurde. Als ob alles nur der Form halber da wäre. Die Einrichtung schwankte zwischen Bäuerlichkeit und überholtem Schick. Gelebt wurde nur in der verräucherten Küche, wo an Tragbalken Wildhaken und Kessel hingen, die häufig in Gebrauch waren, genauso wie der klobige Eßtisch mit den Astlöchern, in die man die Ellbogen stützen konnte. Im vornehmen Teil des Hauses herrschte eine Stille, die besonders eindringlich war und doch von kurzer Dauer, weil alles viel Lärm machte, sobald jemand einen Fuß dorthin zu setzen wagte. Sporadische Bewegungen wurden von Türschwellen, Fußböden und Möbeln mit einer Salve von Holzgeräuschen begrüßt. Niemand war erpicht auf dieses Geknarre, deshalb gab es in diesen Räumen keinen Rauch, sondern Staub.
    Von Bötticher kam wieder in die Diele marschiert, die Hunde an den Fersen. »Bring das Mädchen ins Dachzimmer und die beiden hier, plus Gustav, in mein Studierzimmer.«
    »Gustav, den erwisch ich nicht.«
    »Versuch’s mal mit einem Keks. Kaninchen sind verrückt danach.«
     
    Hatte ich das richtig verstanden? Meine Deutschkenntnisse verdankte ich den Sommern bei meiner Tante in Kerkrade. Einen Deutschen nannten wir dort einen Pruus , einen Preußen. Meine Tante betrieb einen ambulanten Handel mit Kaffeebohnen, in einer Straße, die zu zwei Ländern gehört. In unserer Hälfte heißt sie Nieuwstraat, auf der anderen Seite Neustraße. Ihre Kunden standen mit den Füßen in Deutschland, während ihre Hände in den Niederlanden kauften. Sprachgrenzen gab es nicht zu überwinden. Alle sprachen den Dialekt der ripuarischen Franken, die im fünften Jahrhundert ihre Wörter in Karawanen aus schleppenden Tönen durchs Rheinland gezogen hatten.
    Ich war fünf, trug in meiner Schürze einen rohen Schinken für einen Pruus, der nach einem sjink gefragt hatte. Gleich wieder zurückkommen, hörst du! Ich erinnere mich an großes Gedränge. Der Schinken wurde immer schwerer. Zwei betrunkene Kumpel zeigten auf meinen Schoß, platzten los. So jung noch und schon einen Braten in der Röhre. Ich verirrte mich. Drei Stunden später wurde ich in einem deutschen Hintergarten gefunden, mitsamt meinem sjink . Die Besitzerin sah mich ernst spielen, das ist das einzige, was einem Kind in so einem Fall übrigbleibt. Als die Deutsche mich rief, rannte ich in ihre Arme. Sie sprach die Sprache meiner Tante, Kirchroädscher Platt, das durch seine Tonlage immer leicht empört klang: »Ey, du kling engelsje … we-e bis du dan?« Seit diesem kurzen Ausflug über die Grenze kam ich von allen Sommerferien ripuarisch kallend zurück, zum Abscheu meiner Mutter, die all meine Germanismen durch Maastrichter Gallizismen
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