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Die niederländische Jungfrau - Roman

Die niederländische Jungfrau - Roman

Titel: Die niederländische Jungfrau - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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wie die Wärme einer väterlichen Hand, doch mein Vater hielt seine auf dem Rücken. Es war noch nie so still auf Raeren gewesen, es würde noch eine Weile still bleiben, bevor hier die Hölle los wäre, es würde still sein, wenn der Herr des Hauses heimkäme und niemanden vorfinden würde, nur diesen alten Brief, und es würde still sein, während er ihn las, weil man nun mal schweigt, wenn Ältere sprechen.
    Mein Vater hob meinen Koffer aus dem Sonnenlicht und sah mich fragend an. Ja, ich war fertig. Aber als er losging, blieb ich stehen, die Finger um den Türrahmen gelegt, wie man ein Buch auf den letzten Seiten hält.
    »Ich hab noch was vergessen«, sagte ich und ging wieder hinein.
     

Maastricht, 20. September 1917
     
    Lieber Egon,
     
    diesen Brief werde ich zukleben und bei mir behalten. Wenn man einen Brief schreibt, den man nie abschicken wird, was ist das dann? Eine Klage vielleicht. Wenn Menschen klagen, wollen sie nicht, daß man ihnen widerspricht. Oder ist es eine Beichte? Im Beichtstuhl klagt man über sich selbst und will ja gerade, daß einem widersprochen wird, doch das geschieht nicht, es kommt lediglich eine Antwort, die einem nicht weiterhilft. Ich schreibe dieses Blatt in dem Wissen, daß meinen Worten nicht widersprochen wird. Die Worte bleiben zwischen mir und Dir, und Du bist mein eingebildeter Freund. Jemand, der endlich alles versteht und mir aus eigenem Antrieb verzeiht. Vielleicht wird diese Einbildung irgendwann einmal Wirklichkeit. Dann schreibe ich diesen Brief also an einen künftigen Freund.
    Warum schreiben wir Briefe? Um der Vergangenheit gerecht zu werden oder der Zukunft? In der Abteilung für postlagernde Sendungen scheinen sie unzustellbare Post fünfzig Jahre lang aufzubewahren. Geschriebene Worte wiegen schwerer als Worte, die ausgesprochen werden, diese Achtung teilen wir mit den Tieren. Auch sie interessieren sich mehr für zurückgelassene Spuren als für ein tatsächlich anwesendes Tier. Es ist ein Irrtum zu glauben, daß sie nur im Hier und Jetzt leben. Sie erschnuppern ein anderes Tier, das hier war: das Fremde also und die Vergangenheit. Nur aus der Zukunft machen sie sich wenig. Sie schmieden keine Pläne, wünschen sich nicht, zu verstehen, stellen sich nicht vor, wie das Leben aussehen müßte. Sie erleben Veränderungen, ohne sich darum zu kümmern, ob sie einen Fortschritt bedeuten. Den Tod,den kennen sie. Vielleicht bin ich ja ein Tier, weil ich Deinen Idealismus nicht teile. Ich möchte, daß es Menschen besser geht, verbessern will ich sie nicht. Wir glauben, wir seien eine verbesserte Ausgabe unserer Vorfahren, doch unsere Organe funktionieren noch immer auf die gleiche Weise, wir können sie lediglich besser reparieren. An Dir konnte ich alles reparieren, außer Deinen Leidenschaften. Stell Dir vor, wir könnten ein Mittel erfinden, wie man Rachegelüste ausmerzt! Das würde diesem Blutvergießen ein Ende machen.
     
    Ich habe gerade einen Brief an Dich geschickt, in dem ich gelogen habe.
    Ich schrieb, daß Du erst in Maastricht das Bewußtsein verloren hast. Daß dies eine Lüge ist, hast Du immer vermutet. Wenn bekannt geworden wäre, daß ich Dich bewußtlos in die Niederlande gebracht habe, hättest Du Protest einlegen können, und ich hätte Dich gehen lassen müssen. Die körperliche Genesung reichte dafür aus, Deine psychische Verfassung spielte keine Rolle. Diese Lüge tut mir nicht leid, aber Du verstehst, daß ich sie erst eingestehen kann, wenn der Krieg zu Ende ist.
    Außerdem schrieb ich, ich hätte Dein Pferd nicht gefunden. Auch das ist nicht wahr. Dein Pferd war das erste Lebewesen, das ich je getötet habe. Ich habe mein Skalpell genommen und ihm die Halsschlagader aufgeschlitzt. Deine Stute hat sich nicht gewehrt. Sie begann ein wenig schneller zu schnaufen, und nach einer Weile schloß sie ihr eines Auge, das so viele Dinge gesehen hatte, vor denen sie nicht mehr fliehen konnte. Wir fanden Euch erst, als der Tierarzt schon auf und davon war. Du lagst da wie tot, wie so viele Deiner Kameraden, aber Deine Stute scharrte hilflos im Sand, schnaubend und mit zuckenden Beinen. Sie war das schönste Pferd,das ich je gesehen hatte. Trotz ihrer Verletzungen glänzte ihr Fell, ihr Bauch war pechschwarz vom Blut.
    Ich habe mir nie viel aus Tieren gemacht, aber Deine Stute hatte einen Instinkt, der klüger war als der der meisten Menschen. Sie verfolgte alle meine Bewegungen. Um nicht selbst zu leiden, braucht man nur andere zu beobachten. In
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