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Die niederländische Jungfrau - Roman

Die niederländische Jungfrau - Roman

Titel: Die niederländische Jungfrau - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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entzauberte Geschichte übrigbleiben würde, wie das Gemurmel nach einem Traum, wenn Versuche, noch präsente Erfahrungen zu teilen, am Gähnen des anderen scheitern.
    Sehr feierlich öffnete Leni das Tor etwas weiter, durch das in einer knappen Stunde mein Vater hereinfahren würde. Siegbert stand nur so rum, auf seiner Fechtjacke der Blutfleck. Es wunderte mich, daß Leni keinen Versuch unternommen hatte, ihn zu entfernen. Sie, die sich immer so viele Gedanken darüber machte, was andere dachten. Es wäre genug Zeit gewesen, ein Tuch in Seifenwasser zu tauchen, den Jungen ein wenig herzurichten, schließlich hatte ich es auch geschafft, mich anzuziehen. Nein, hier stimmte was nicht. Sie öffnete das Tor nicht für meinen Vater. Sieging nicht zur Familie Wolf. Sie brachte die Beweislast zu Männern, die schon einen Monat darauf warteten, die zunächst noch ihre Zweifel hatten, weil Herr von Bötticher Ansehen genoß, dann aber immer mehr Interesse daran zeigten, was der Knecht und seine Frau zu berichten hatten. Sie hatten sich Notizen gemacht, gebeten, sie über alles zu unterrichten. Jetzt würden sie einen Brief tippen, der einen Richter überflüssig machte.
    »Warte auf mich«, schrie sie noch einmal, aber ich wußte bereits, daß ich das nicht tun würde. Als erstes mußten die Waffen weggeräumt werden, die lagen noch immer auf dem Boden des Fechtsaals, nicht gerade in einer Blutlache, aber sie mußten doch kurz abgewischt und in den Keller gebracht werden. Danach trug ich meinen Koffer nach unten. Mein Gepäck war dasselbe wie bei meiner Ankunft, als ob in der Zwischenzeit nichts passiert wäre, als ob Erfahrungen nichts wögen. Der Kuchen hatte das Untergeschoß unbeirrt mit einem angenehmen Duft erfüllt, draußen traten die Pferde gegen die Stalltüren. Ich mußte mich beeilen. Ich war mir nicht sicher, ob ich dabei war, Spuren vor der Gestapo zu verwischen oder vor meinem Vater. Loubna war schmutzig, die Stute hatte sich am Vortag ungeachtet ihres ästhetischen Werts im Schlamm gewälzt, und es würde bestimmt eine halbe Stunde dauern, bis ich alle Krusten aus ihrem Fell gestriegelt hatte, deshalb brachte ich sie auf eine weit abgelegene Weide, außer Sicht. Megaira war sauberer, nicht weil sie so nobel gewesen war, sich nicht zu wälzen, sondern weil sie eine Decke getragen hatte, die den Schlamm aufnahm. Sie rieb ihre Nase an meiner Brust, als wäre ich ein Baum.
    »Mach dir keine Sorgen, es kommt alles in Ordnung«, sagte ich wieder, aber die Stute machte sich überhauptkeine Sorgen, sie starrte durch mich hindurch und zeigte mein Spiegelbild in ihrem prüfenden Auge. Es war ein unheilverkündendes Bild, das sie mir vorhielt: mein rundes, blasses Gesicht vor dem Hintergrund kahler Bäume. Pferde sehen in der Ferne besser als in der Nähe. Plötzlich kippte etwas in diesem Auge, und mein Spiegelbild wich ihrem eigenen, wilden Blick. Sie spannte die Muskeln an wie eine Feder, stampfte mit den Hinterbeinen auf der Stelle, wobei sie hinten etwas runterging, als wolle sie sich aufbäumen. Großer Gott, ich würde sie nicht halten können. Sie begann zu äpfeln und Sand mit ihrem Huf loszuscharren, das gesamte hysterische Pferderepertoire wurde in einem Moment aktiviert, den sie sich ausgesucht hatte, weil er mir bestimmt nicht paßte. Ich wollte böse werden, das arrogante Viech schlagen, da sah ich hinter meinem Spiegelbild, was sie gesehen hatte. In der Einfahrt war ein Auto aufgetaucht, das mindestens so schwarz war wie sie.
     
    Mein Vater war jedesmal kleiner, als ich ihn in Erinnerung hatte. Er stieg aus, rückte den Hut zurecht, schaute durchs Autofenster hinein, öffnete die Tür wieder und holte heraus, was er vergessen hatte – die Tasche, die er sein ganzes Leben bei sich getragen hatte wie ein zerknautschtes Organ. Innerhalb der Mauern von Raeren schien er mir fremd in all seiner Formalität. Alles an ihm war durchschnittlich, von guter Machart und reiner Schurwolle. Altväterlicher als nötig. Das mochte ich eigentlich, als Altersgenossen von Egon hätte ich ihn nicht gern gesehen. Das Zerbrechliche gehörte zu meinem Vater, er verhielt sich schon seit zehn Jahren wie ein altes Tier, das sich mit seinen steiferen Gliedmaßen und der verschwommenen Sicht abgefunden hat. Er sah mich erst, als ich ihn rief.Sein ganzer Körper streckte sich vor Überraschung. »Was ist das denn?« Ich bekam einen flüchtigen Kuß, denn er war noch damit beschäftigt, seinen Unglauben mit der Wirklichkeit
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